S21-Schlichtung 6: Phoenix schaltet die Demokratie ab

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Gegen 16:00 Uhr war Schluss. Und zwar mitten in einer Debatte um die Tunnelsicherheit. Bei Phoenix hatte man offenbar keinen Bock mehr. Zwei Stunden hatte man verlängert. Jetzt war Schluss. Sicherheit hin oder her. Zwar sendete der SWR weiter im Internet. Das aber musste man erst herausfinden. Und als ich es herausfand, war es ca. 17:30 Uhr und Ende der Schlichtung.

Nachvollziehbares Material zu den eineinhalb Stunden habe ich (noch ?) nicht gefunden. An fluegel.tv kam ich nicht ran. Die Zeitungen hatten heute offenbar auf Live-Ticker verzichtet. Die Parkschützer hatten fleißig mitprotokolliert. Aber bei Phoenix. Die Videos im Internet enden um ca. 16:00 Uhr. Das Protokoll auch. Für eineinhalb Stunden zum Thema Sicherheit also wurde von einem Redakteur bei Phoenix die Schlichtung für die Zuschauer kaputt gemacht, und Transparenz und Demokratie in dieser Frage ausgesetzt.

Nun mag man sagen, dass die Schlichtungsrunde durch ihr mehrfaches zeitliches Überziehen dafür verantwortlich ist. Der große Zuschaueranwalt Geißler vergaß offenbar plötzlich seine neue Rolle und war ganz Politiker, der sich in Gremien verliert und den Kontakt zu den Menschen draußen vergisst.

Irgendwie ist es bezeichnend und paradox zugleich, dass ausgerechnet die Leute des Übertragungsmediums und die Teilnehmer der Schlichtung – wo es ja um Dialog gehen soll – nicht in der Lage sind, sich über die Sendezeit zu verständigen und ausgerechnet diejenigen, für die diese Schlichtung gedacht ist kurzerhand ausschalten. Besonders ärgerlich war dies für Menschen, die wegen dieser Übertragung auf die Teilnahme an einer Großdemonstration für die Aufarbeitung des Schwarzen Donnerstag verzichtet hatten. Sie waren doppelt betrogen.

Vielleicht gibt es diese eineinhalb Stunden ja irgendwann noch einmal zu Nach-Schauen. Es wäre jedenfalls eine notwendige Wiedergutmachung. Vielleicht habe ja auch nur ich dazu bislang nichts gefunden. Aber genau dieses Ereignis demonstriert, worum es heute in der 6. Schlichtung ging: was schief gehen kann, geht irgendwann einmal auch tatsächlich schief. In diesem Fall: was bisher in einer üppigen Redundanz dokumentiert wurde, wurde ausgerechnet an dem Tag, als Phoenix vorzeitig wegschaltete offenbar auf keinem allgemein zugänglichen Parallel-Medium weiter dokumentiert.

Genau darauf aber, dass man immer und überall alles im Griff habe, bauen unerschütterlich die Verantwortlichen für Stuttgart 21. Dazu ein paarDialogfetzen zur Neigung der Bahnsteige des Tiefbahnhofs von 1,5 Prozent aus dem bislang nicht dokumentierten Teil der Schlichtung. Es geht um die Frage, ob ein Zug (ohne Lokführer oder mit handlungsunfähigem Lokführer und mit nicht festgestellten Bremsen) in der Schräge von allein ins Rollen kommen kann.

Bieger (DB-Sicherheitsexperte): Die Sicherheitsvorkehrungen schließen eigentlich aus, dass ein Zug ins Rollen kommt, während Fahrgäste aus- und einsteigen. Vollkommen ausgeschlossen werden kann es aber nicht.,

Bitzer: Verweist auf einen vergleichbaren S-Bahn-Halt mit Bahnsteigneigung, an dem es noch nie ein Problem gegeben habe.

Geißler: ICE sei etwas anderes als eine S-Bahn.

Bitzer: Es ist kein Problem.

Geißler: Es ist ein Problem.

..

Geißler: Sie haben immer noch nicht begriffen.

Und dazu passt, was Herr Kefer bereits vorher gesagt hatte: Die Probleme sind abgewogen worden.

Die Fragen: Von wem? Wie? Unter welchen Gesichtspunkten? ...usw. wurden erst gar nicht gestellt.

Damit hätten wir bereits Leitmotiv bzw. Thema und Konflikt des ganzen Tages: Auf der einen Seite die „Ingenieure“, deren Ehrgeiz die Herausforderung reizt und die meinen, mit ihrem Können alles im Griff zu haben. Dazu die Bürokraten, die fest auf ihre Vorschriften bauen. Auf der anderen Seite die Skeptiker, bei denen es am Ende auf die Frage hinausläuft, ob es Sinn macht und verantwortbar ist, ein Milliardenprojekt zu bauen, bei dem es Restrisiken gibt, die beim derzeitigen Bahnhof nicht oder in geringerem Umfang gegeben sind.

Das begann am Morgen mit der Geologie, wo vorgetragen wurde, mit welchen elaborierten Techniken die zu erwartenden Schwierigkeiten im Untergrund (Gipskeuper, Karst, Grundwasser, Mineralwasser usw.) erkundet wurden und beherrscht werden sollen. Auch wurde noch einmal auf die langen Erfahrungen in Stuttgart und weltweit verwiesen. Am Ende aber wurde dann doch eingeräumt, dass ein (minimales ?) Restrisiko bleibt.

Geklärt scheint immerhin, dass der Bahnhofsturm nicht auf Eichenpfählen steht, sondern auf Eisenbetonpfählen, womit das Risiko eines schiefen Turmes von Stuttgart infolge Grundwasserabsenkung nicht gegeben ist. Die Bäume im Schlossgarten, die durch die Grundwasserabsenkung während der Bauarbeiten betroffen sein werden, sollen eigens bewässert werden.

Außerdem wurde gesagt, dass bei (unwahrscheinlichen ?) Schäden am Mineralwasser Entschädigung gezahlt wird.

Das Grundmuster der Debatte wiederholte sich dann bei den Sicherheitsfragen, wo am Ende der Eindruck blieb, dass der Kopfbahnhof im Brand- und Katastrophenfall dem Tiefbahnhof weit überlegen ist: überlegene Abzugsmöglichkeiten für Rauch, ebene Fluchtwege in die Bahnhofshallen zum Nordausgang sowie ins Gleisvorfeld. Und gute Zugangswege für Rettungsdienste, die über den Nordausgang direkt auf die Bahnsteige fahren können. Im Tiefbahnhof dagegen sind Rolltreppen zu überwinden und die Zwischenebenen können zu Rauchfallen werden. Umstritten war auch die Sicherheit der Tunnel im Katastrophenfall, was aber kein spezifisches Problem von S21 sein dürfte.

Sehr bezeichnend für das gesamte S21-Problem war auch hier eine kleine Szene. Während nämlich diese Sicherheitsrisiken aufgezeigt wurden, unterhielt sich Ministerin Gönner feixend mit ihrem Nachbarn. Auch ein Kommentar zum politischen Verantwortungsgefühl.

Ganz besonders betroffen von den Sicherheitsrisiken sind Behinderte im weitesten Sinne, die bereits im Normalfall auf offenbar unzureichende Hilfen von Seiten der Bahn angewiesen sind. Im Notfall aber sind sie am stärksten gefährdet. Im Moment stellen sie ca. 30 Prozent der Bahnreisenden und sind auch stärker als andere auf die Bahn angewiesen. In Zukunft werden es infolge des demographischen Wandels bis zu 50 Prozent der Bahnreisenden sein, für die der Tiefbahnhof zur Falle werden könnte -im Normalfall wie in der Katastrophe.

Auch heute galt, was schon in einem anderen Zusammenhang gesagt wurde: einzelne Probleme mögen für sich genommen beherrschbar sein. In der Summe aber zeigte sich der Tiefbahnhof mit seinen Tunnelsystemen heute als potentielle Meisterleistung höchster Ingenieurskunst mit der Option zum Super-Katastrophenbahnhof. Und dabei kam, bezeichnenderweise, der Supergau - ein terroristischer Anschlag nämlich - noch nicht einmal zur Sprache (?). Obwohl der doch gerade zu politischen Zwecken ganz intensiv genutzt wird.

Das Resümee nahm Herr Molitor von den Stuttgarter Nachrichten bereits in einer Unterbrechung vorweg, als er sagte, Stand 6. Sitzung seien die Gegner von Stuttgarter 21 punktemäßig leicht im Vorteil. Und wenn der das so sagt, dann ist der Vorsprung ziemlich groß. Anders gesagt, es wird immer offensichtlicher, dass hier mit Milliardenaufwand und unter Aufbietung elaboriertester Technik ein guter Bahnhof durch einen schlechteren ersetzt werden soll.

Erfreulich am heutigen Tag war, dass Herr Bräuchle nicht dabei war. Unerfreulich war, das Frau Gönner meinte, am Schluss noch petzen zu müssen, indem sie meinte, wegen einiger Parolen und einer Sitzblockade im Rahmen der Demonstration Herrn Rockenbauch einen Verstoß gegen die Friedenspflicht vorwerfen zu müssen. Der meldete per Handy(?), er sei nicht (mehr) auf der Demonstration. Schaute offenbar selbst gerade SWR im Internet......

Für einen genaueren Überblick gibt es ein Stichwortprotokoll der Parkschützer (bis ca. 16:00 h):

www.bei-abriss-aufstand.de/2010/11/20/6-faktenschlichtung/

Die Phoenix-Übertragung bis 15:00 h gibt es als Videos:

20.11.2010 S21 Schlichtung, Teil 1 (von 08.45 bis 10.00 Uhr)

www.youtube.com/user/phoenix

20.11.2010 S21 Schlichtung, Teil 2 (von 10.00 bis 11.00 Uhr)

www.youtube.com/user/phoenix#p/u/4/Mxnm_7hs3UE

20.11.2010 S21 Schlichtung, Teil 3 (von 11.00 bis 12.00 Uhr)

www.youtube.com/user/phoenix#p/u/3/0gbhlhZldAg

20.11.2010 S21 Schlichtung, Teil 4 (von 12.00 bis 13.00 Uhr)

www.youtube.com/user/phoenix#p/a/u/2/uhnID-faweo

20.11.2010 S21 Schlichtung, Teil 5 (von 13.00 bis 13.40 Uhr)

www.youtube.com/user/phoenix#p/a/u/1/Un7xkjRj3JY

20.11.2010 S21 Schlichtung, Teil 6 (von 14.20 bis 15.00 Uhr)

www.youtube.com/user/phoenix#p/a/u/0/2S3nJDpFeOw

Und dazu gibt es, wie üblich, auch die Vorträge und Materialien:

PRO

Prof. Walter Lächler: Großprojekt Stuttgart 21 - Geotechnik und Grundwasser

www.phoenix.de/sixcms/media.php/54/1_Vortrag_Laechler_Schlichtung_S21.pdf

Prof. Walter Wittke: Die Tunnel: Schwierigkeiten und Lösungen

www.phoenix.de/sixcms/media.php/54/20101119_Geologie_Sicherheit_kurz.pdf

Klaus-Jürgen Bieger: Sicherheitskonzept

www.phoenix.de/sixcms/media.php/54/Bieger_Sicherheitskonzept_FV.pdf

Volker Kefer: Vortrag Bauabwicklung

www.phoenix.de/sixcms/media.php/54/Dr_Kefer_Vortrag_Bauabwicklung_FV.72059.pdf

CONTRA

Dipl.-Ing. Eberhard Happe: Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO)

www.phoenix.de/sixcms/media.php/54/03_Happe_EBO.pdf

Gangolf Stocker: Gefährdung der Mineralquellen durch Stuttgart 21

www.phoenix.de/sixcms/media.php/54/01_Stocker_Gefaehrdung_der_Mineralquellen_durch_Stuttgart_21.pdf

Gangolf Stocker: Rettungskonzept

www.phoenix.de/sixcms/media.php/54/04_Stocker_Rettungskonzept.pdf

Gangolf Stocker: ICE-Triebkopfbrand im Hauptbahnhof Offenbach

www.phoenix.de/sixcms/media.php/54/06_Gangolf_Triebkopfbrand_Offenbach.pdf

Dipl.Ing. Hans Heydemann: Sicherheitstechnischer Vergleich im Brandfall Tiefbahnhof S21 – Kopfbahnhof K21

www.phoenix.de/sixcms/media.php/54/02_Heydemann_Sicherheitstechnischer_Vergleich_Tiefbahnhof_226_Kopfbahnhof.pdf

Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21: Die Fachschlichter & Experten

www.phoenix.de/sixcms/media.php/54/07_Faktenschlichter_und_Experten.pdf

Dr. Jakob Sierig: Georisiken beim Tunnelbau für Stuttgart 21

www.phoenix.de/sixcms/media.php/54/00_Sierig_Georisiken_beim_Tunnelbau_%20Stuttgart_21.pdf

Hintergrund Tunnel-Echterdingen

www.phoenix.de/sixcms/media.php/54/05_Hintergrund_Tunnel_Echterdingen.pdf

Die Parkschützer haben darüber hinaus in einer Presseerklärung eine Wertung der heutigen Schlichtung vorgenommen, die in Einzelpunkten etwas detaillierter und inder Kritik etwas pointierter ist:

www.bei-abriss-aufstand.de/2010/11/20/presseerklaerung-besorgniserregendes-sicherheitskonzept/

Als Ergänzung noch die Stuttgarter Zeitung:

www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2715266_0_6717_-sechste-schlichtungsrunde-expertenstreit-um-risiken-im-untergrund.html

Und dapd (in der Stuttgarter Zeitung):

www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2715182_0_3469_-schlichtung-risiken-fuer-mineralwasser-umstritten.html

www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2715125_0_6866_-schlichtungsgespraeche-risiko-bauuntergrund-im-fokus.html

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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