Dario Fos Mutter

Gomringer an der Fassade Die Hellersdorfer Posse und die Welt darum herum. Eine argumentationswillige Polemik

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Der Ausgangspunkt darf als bekannt vorausgesetzt werden: Ein an der Südfassade der Alice-Salomon-Hochschule (ASH) angebrachtes Gedicht des Schriftstellers Eugen Gomringer wurde als mehr oder weniger sexistisch eingestuft und deshalb die Entfernung der Zeilen beschlossen.

In einer Fernsehdokumentation über die Kultur Italiens erläuterte Dario Fo einst, wie italienische Frauen den öffentlichen Raum als Bühne benutzten und es für durchaus unhöflich erachteten, wenn diese Bemühungen keinerlei Beachtung fänden. Wenn er als kleiner Junge mit seiner Mutter unterwegs gewesen sei, erinnerte er sich, habe sie ihn häufiger zurechtgewiesen: "Bohr´ nicht in der Nase rum! Schau dir die Frauen an!"

Ein "knackiger Hintern"

Am letzten Sonntag des Januars sendete der WDR am Vormittag über das Dampfradio eine Konzertbesprechung. Es ging um Rod Stewarts einziges Konzert in Deutschland. Die Moderatorin, offensichtlich eine Anhängerin von Rod The Mod, fragte den Reporter, ob der Musiker immer noch so knallenge Hosen trage, und ob er, immerhin schon über siebzig Jahre alt, noch immer einen so "knackigen Hintern" besitze wie seinerzeit. Gelächter vor dem Radio, aber es muss bedacht werden, oder auch nicht, dass ein männlicher Kollege, der sich in gleicher Weise über eine Sängerin erkundigt hätte, beim Westdeutschen Rundfunk seinen Arsch nicht hätte retten können.
Nun müssen die lästigen Verpflichtungen eines Pop-Stars als Sexsymbol mitgedacht werden (Mick Jagger: Ich bin gerne Sexobjekt). Machte es einen Unterschied, wenn der wohlwollende Blick der Moderatorin auf die "knackigen" Rundungen Rods gefallen wäre, während dieser, gerne ohne erkannt werden zu wollen, durch die Straßen Londons, Beverly Hills´ oder Las Vegas´ geschlendert wäre?
Las Vegas, weil auch der Raspelbarde dort im Ceasars Palace sein Taschengeld aufgebessert hat. 2015 begleitete ihn der Rolling Stone im Privatjet Richtung McCarran Airport und rechnetet vor: Die Abendgage belief sich auf etwa 450.000 US-Dollar, zum Zeitpunkt des Artikels hatte der Entertainer schon 111 Auftritte absolviert. Ergab Einnahmen von knapp 50 Millionen Dollar, aber niemand sieht die Unkosten, den Jet, die Villen, die Hosensammlung im begehbaren Kleiderschrank.

Das Erntefeld

Vielleicht wollte Rod Stewart mit seinen Liedern den "gaelic flavor" in die Spielmetropole bringen, und auch den Blues - irgendwie, unter all dem Pomp verborgen und zu entdecken.
Und die Gedanken wandern in der Erinnerung von Nevada zu einer eigenen Fahrt durch Florida. An einer roten Ampel wanderte der Blick nach links zu einem Feld, in dem Frauen, alle gebückt, die eng gewickelten weißen Kopftücher in scharfem Kontrast zu den dunklen Gesichtern, im Ernteeinsatz waren; Bilder wie aus vergangenen Zeiten, die aber nicht vergangen waren.
Genauso wie für die Kindersklavinnen im südamerikanischen Geburtsland des Dichters Gomringer die Vergangenheit noch nicht vergangen ist, selbst in den Minen verrichten sie Schwerstarbeit. Aber hinter den Skimasken, die sie zum Schutz tragen, lässt sich nur schwer ausmachen, ob es sich um Mädchen oder Jungen handelt.
Und es fragt sich, wieviele Jahrhunderte die karge Entlohnung akkumuliert werden müsste, um in die Sphären eines Las Vegas-Entertainers zu gelangen.

Fordert aber logischerweise dazu auf, neben den Lebens- und Arbeitsbedingungen so oder so die Geldströme im Auge zu behalten, was in unserer durchökonomisierten Welt vermutlich als selbstverständlich gilt, aber kaum mit analytischem Blick getan wird, auch nicht in den Wirtschaftsteilen der Medien.

Das gilt auch für den Flaneur in Gomringers Gedicht, der es sich leisten kann, mit wohlwollendem Blick die Schönheiten der Allee zu betrachten, ob auf den Ramblas Barcelonas oder anderswo.
Aber das Bild des Flaneurs führt auf Abwege. Denn in dem Gedicht an der Südfassade der Alice-Salomon-Hochschule, so stellt ein Germanistik-Professor aus Fribourg in der Süddeutschen Zeitung fest, ist "das lyrische Ich ... auffällig abwesend" (so auch der Titel, online, 26.01.2018). Mit feinem Hermeneutikbesteck seziert er die Zeilen und kommt zu der Erkenntnis, dass Gomringer als Vertreter der konkreten Poesie mit Avenidas eine Konstellation geschaffen hat, eine kleine Auswahl von Wörtern, die in Beziehung zueinander treten (können). Zunächst ergibt die Begutachtung auch keinen Sexismus-Verdacht.
Erst die geschlechterspezifische Interpretation -die sich der Interpret eher nicht zu eigen macht- fördert Mißbilligendes zutage: Im Gesamtzusammenhang würden die Frauen zum Ornament gemacht, denn plötzlich taucht doch ein Ich auf, das der Text auch hergibt, der Admirator, und dieser drängt sich in den Vordergrund, während die Frauen als schmückendes Beiwerk, ornamental, im Hintergrund verschwinden.

Autos Dosenbier Fußball Männer

Zugegeben, mindestens haftet dem Poem die Patina des Überkommenen an, so viel ist gewiss. Fragt sich, inwieweit die spanischsprachigen Zeilen, als Fassadenmalerei öffentlich gemacht, sich zu einer Zumutung, einer ernsthaften Behelligung auswachsen.
Würde ich im Rahmen der konkreten Poesie die Substantive Autos, Dosenbier, Fußball und Männer in Beziehung setzen, so ließe sich daraus zwar kaum ein poetischer Funke schlagen lassen, aber ohne große Mühe die Gleichung Männer = unterbelichtet. Ohne jetzt näher darauf einzugehen, in welchem Maße diese Gleichung zutreffen könnte, kann jedoch festgehalten werden, dass das Verdikt "Sexismus" in diesem wie auch dem anderen Fall zu harsch ausfallen würde.
Aber wie auch immer: Der ASH wäre es doch möglich gewesen, als Körperschaft des Öffentlichen Rechts ohne großes Getöse das 2011 preisgekrönte, als Altherrengedeck empfundene Gedicht durch ein anderes zu ersetzen, vertragliche Bindungen oder Probleme, was die Eigentumsrechte (Hausgrundstück, Fassade) angeht, scheinen dem ja nicht entgegenzustehen.

Tanz die Südfassade

Leider wurde stattdessen eine Art Tribunal auf der Grundlage der paar konventionellen Gedichtzeilen entfacht, und die Exekution derselben beschlossen.
Und die Vollstrecker/innen grinsen dazu, deshalb wurde noch der Begriff des "Gedicht-Verlassens" ins Spiel gebracht, der an Kindergarten, Waldorfschule und Esoterikkurs erinnert. Womöglich wird anlässlich der Übermalung noch ein Tanz die Südfassade initiiert werden. Der passende Jargon dazu: "Was machen die Gedichtzeilen mit mir, wie fühlt sich das an, wie gehe ich damit um?".

Zudem, und jetzt kommt der heikle Punkt, gab es für die Auswahl des neuen Gedichts -das mittlerweile gefunden wurde- eine Vorgabe: "Sexistische, rassistische, ableistische, lookistische, klassistische, ageistische oder sonstige diskriminierende Bezüge werden nicht akzeptiert." Abgesehen davon, dass so mancher Mensch erst zu Wörterbuch, Suchmaschine und Definitionslimiter greifen müsste: Diese Vorgabe, geeignet vielleicht zur Überprüfung von politischen Flugblättern, Bedienungsanleitungen und Koalitionsvereinbarungen, öffnet mit ihren Abstrakta, verbunden mit beherzter geschlechtertheoretischer Interpretation, die Büchse der Pandora. Welcher Roman, welches Gedicht könnte sich an dieser Cerbera vorbeischmuggeln? Und: Wie sollte sich ein mit solcher Tätigkeit befasstes Gremium nennen, und wer würde dort Mitglied werden wollen? Eher niemand, sollte man hoffen.

Heimleuchten

Eine alte Frau, die viel gesehen und noch mehr gehört hatte, erzählte am Tresen von einem Brauch: Danach stellten Frauen, um den Bergmännern nach der Schicht in der Dunkelheit in gemeinsamer Aktion heimzuleuchten, eine Lichtquelle ins Fenster. Die Kumpels sahen in den dunklen Monaten bei ungünstiger Schicht niemals das Tageslicht.

Es gibt im öffentlichen Raum auch Platz für Aktionen jenseits des dem Ich gewidmeten Narzissmus, welcher von der Welt und seinen Missständen und Möglichkeiten eher ablenkt, als sie in den Blick zu nehmen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Rüdiger Grothues

Musiker, Jurist, Autor

Rüdiger Grothues

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