Hatte George Orwell Recht?

Big Brother = NSA? Ist George Orwell's Big Brother trotz 65 Jahren Grundgesetz bereits unter uns?

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Seit 65 Jahren gilt das Grundgesetz. Es verankerte u.a. die Menschenwürde in einem demokratischen Staat. Vor 65 Jahrenhatte George Orwell sein Buch1984“ veröffentlicht. Es schildert die Vernichtung der Menschenwürde in einem perfektionierten Überwachungsstaat. Der Aufbau dieses Staates war auf gutem Wege. Er sollte 2050 abgeschlossen sein. Mittels staatlich installierter Televisoren war 1984 bereits eine fast lückenlose Überwachung realisiert.Der Aufbau der Demokratie in unserem Lande schien auf gutem Wege - bisEdward Snowdenvergangenes Jahr die weltweite, massenhafte Ausspähung durch die NSA enthüllte. Ist Big Brother bereits unter uns?

Internet- und Mobilfunktechnologie versprachen einst ein verlockendes Paradigma: grenzenlose Freiheit bei der Nutzung der elektronischen Kommunikations- und Informationstechnik (IT). Effizienzsteigerungen in zahllosen Wirtschafts- und Lebensbereichen wurden erschlossen. Seit geraumer Zeit sind wir mit einem neuen Paradigma – man könnte es auch Big Brother nennen - konfrontiert: alles, was technisch möglich ist, wird zur Ausspähung, aber auch zur Manipulation, unabhängig von Recht und Moral,eingesetzt.Sogar neue Techniken und Produkte werden „ausspähkonform“ entwickelt. Und die angeblich so robusten und zuverlässigen Sicherheitsmechanismen haben sich als löchrig, fehlerhaft und korrumpiert erwiesen. Eine Folge: Jeder IT-Nutzer zahlt für die grenzenlose Informationsbereitstellung mit seinen i.d.R. persönlichen und vertraulichen Daten. Ein faires Geschäft auf Gegenseitigkeit?

Aus Sicht der IT-Experten in Wirtschaft und Verwaltung waren die Chancen, aber auch die Risiken im Hinblick auf Wirtschaftsspionage und Datenschutz seit langem bekannt. Mit hohem Aufwand wurden technische und organisatorische Maßnahmen ergriffen, um insbesondere die „Kronjuwelen“, d.h. Erfindungen und Blaupausen, zu schützen. Insofern ein faires Geschäft. Dass Spionagedienste wie die NSADaten absaugen, war – bis auf den Umfang - grundsätzlich bekannt. Dass sie aber auch IT-Geräte kompromittieren, IT-Entwicklungen beeinflussen und damit die Cyber-Sicherheit hintertreiben, wollte man sich ebensowenig vorstellen wie das Aushebeln nationaler Gesetze z.B. durch länderübergreifende Zusammenarbeit der Spionagedienste – auch unter Nutzung der IT-Konzerne. Und schon gar nicht, dass sie die Gesetzgebung in ihrem Sinne beeinflussen und sich parlamentarischer Kontrolle entziehen. Letzteres wird erleichtert durch mangelnde Kompetenz in der Politik („Neuland Internet“).

Anders verhält es sich bei den privaten IT-Nutzern. Sie besitzen meist keine ausreichenden Kenntnisse über Risiken und deren Vermeidung. Zwar können wir heute einenVertrauensverlust in IT aufgrund der Berichterstattung über die Ausspähaktivitäten, aber auch über zunehmende Datendiebstähle und Sicherheitslücken konstatieren. Allerdings wird das häufig hingenommen, da „man doch nichts dagegen machen kann“ und auch „nichts zu verbergen hat“. Viele Bürger gebenim Internet bereitwillig und bedenkenlos persönliche Daten preis ohne sich bewusst zu sein, welche persönlichen Konsequenzen diesz.B. bei Missbrauch nach sich ziehen könnte. Die heutige Mobilfunktechnologie liefert lückenlos Bewegungs- und Verhaltensprofile, was entweder nicht hinreichend bekannt ist oder mit dem Hinweis „das sind ja nur Metadaten“ fälschlicherweise verniedlicht wird. Dabei gehen die heutigen Überwachungsmöglichkeiten und -praktikenüber das hinaus, was sich Orwell seinerzeit vorstellen konnte: die staatlich verordneten, stationären Televisoren sind durch persönliche, mobile Smart Phones ersetzt, die zudem noch von ihren Nutzern bezahlt und überall mitgeführt werden.

In Wirtschaft und Verwaltung wird für zusätzliche IT-Sicherheits-Aufwendungen geworben, was aber häufig bedeutet:noch mehr IT-Sicherheitsprodukte und IT-Dienstleistungenaus wenig vertrauenswürdigen Ländern; noch mehr IT-Services von Firmen mit direktem Draht zu den Spionagediensten; noch mehr IT-Produkte von Herstellern, die im Auftrag de Spionagedienste versteckte „Spionagefunktionalitäten“ verbauen.Der Staatsapparat denkt seit geraumer Zeit über Restriktionen beim Einkauf derartiger IT-Produkte und IT-Dienstleistungen nach. Er lässt aber Initiativen vermissen, wenn es um das Abstellen und die Verfolgung von Grundrechtsverletzungen seiner Bürger durch Spionagedienste (inländische wie ausländische) geht.Die Wirtschaftsverbände sorgen sich vorrangig um das getrübte transatlantische Klima. Auch die Gewerkschaften haben sich bisher vorwiegend aus dem Blickwinkel der gefährdeten Pressefreiheit geäußert. Und die Kulturschaffenden beschränken sich auf Unterschriftensammlungen und offene Briefe.

Die Medien haben sich zwar redlich bemüht und auch das Medieninteresse ist seit den ersten Veröffentlichungen des NSA-Skandals im Juni 2013 enorm. Auch international hat es bis heute nur wenignachgelassen, was sicherlich auch der geschickten Veröffentlichungsstrategie geschuldet ist. Die Akteure werden hoch anerkannt (z.B. Pulitzerpreis). Gemessen am Sensibilisierungsgrad von Bürger und Politikernkommt man allerdings nicht umhin, im Vergleich etwa zu den Affären Guttenberg oder Wulff, bisher einegewisse Erfolglosigkeit der Medien zu konstatieren. Inwiefern dies die weitere Berichterstattung beeinflussen wird, bleibt abzuwarten. Allerdings scheint neuerdings das Interesse der Bevölkerung sowohl an IT-Sicherheit als auch an einer „Nachbesserung“ der einschlägigen Gesetze – wenn auch von niedrigem Niveau aus – zu steigen. Nun, vor 65 Jahren war das Interesse der Bevölkerung am Grundgesetz auch nur im einstelligen Prozentbereich.

Es verwundert daher nicht, dassdie Wertung des anlasslosen, flächendeckenden Abschöpfens von personenbezogenen Daten als eklatanter Verstoß gegen Menschen- und Grundrechte noch nichtAllgemeingut ist.Obwohl dies, wie bereits Orwell herausgearbeitet hatte, die Menschenwürde untergräbt. Selbst hochrangige Politiker sehen einen Vorrang von Sicherheit („Supergrundrecht“). Aber auch die Kirchen haben bisher als moralische Instanz in dieser Frage versagt.Auch die bisher geübte Zurückhaltung bei der Umsetzung des Datenschutzes in Wirtschaft und Gesellschaft sowie bei der Ausarbeitung der neuen Datenschutz-Charta auf europäischer Ebene deutet auf eine Lücke im Datenschutz-Bewusstsein hin Immerhin haben sich sowohl der europäische Gerichtshof als auch das Bundesverfassungsgericht beim Thema Vorratsdatenspeicherung auf die Seite der Menschenrechte geschlagen. Ärgerlich ist, wenn selbst gestandene Politiker bei dem Thema Bändigung der Spionage mit dem Hinweis auf das zweitälteste Gewerbe der Welt hilflos mit den Schultern zucken. Auch das älteste Gewerbe der Welt rechtfertigt nicht Zwangsprostitution. Die Frage, inwieweit die Politik durch Geheimabkommen im Nachgang des Besatzungsrechts „gebunden“ ist, wird immer wieder thematisiert, ist bisher aber nicht zweifelsfrei dementiert worden.

Damit sind wir bei den Fragen „Was tun?“, „Wie sich schützen?“.Ehrlicherweise muss man eingestehen, dass im Rahmen der heute eingesetzten Technik keine umfassenden technischen Sicherheits-Lösungen existieren. Richtig ist nach wie vor die Propagierung von Passwörtern, Verschlüsselung, Firewalls etc.. Allerdings schützt das nicht vor dem Ausspähen, wie es von Spionagedienstenbetrieben wird. Hierzu müssten u.a. die eingesetzten Techniken ersetzt werden – z.B. beim MobilfunktÜberwachungstechnik durch sog. Zero-Knowledge-Privacy-Aware-Design-Technik. Dies wäreein größeres Unterfangen. Hier müssten die staatlichen Institutionen eine stärkere Rolle übernehmen. Allerdings müssten diese dann darauf verzichten, Überwachungsvorgaben für die neuen Techniken vorzuschreiben, wie das z.B. heute in den USA der Fall ist. Womit wir bei den wichtigeren Themen Gesetz und Moral wären.

Wir benötigen einen länderübergreifenden Codex, der verbindliche Rahmenbedingungen festlegt. Bei der Ausarbeitung sollten– anders als zum Beispiel bei dem Freihandelsabkommen der EU mit den USA (ITTIP) - alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen transparent eingebunden werden. Nur so schafft man die nötige Akzeptanz. Die deutsche Politik hat bisher zu langegeschwiegen, gezögert, verharmlost, getrickst, um ihr das Feld alleine überlassen zu können.Ein langer Weg.Bis das erreicht ist, bleibt wohl nichts anderes übrig als verdächtige IT-Produkte und IT-Dienstleistungen zu meiden, in Politik und Gesellschaft Druck zu machen undwohlüberlegt mit den eigenen persönlichen Daten umzugehen. Und auch die Medien müssen weiterhin aktiv ihre Rolle spielen.

In Orwells „1984“ gibt der Protagonist am Ende seine Auflehnung auf und unterwirft sich dem Überwachungsstaat. Allen, die die Aufregung um den NSA-Skandal noch nicht verstehen wollen, sei diese Lektüre empfohlen. Sie sollten zumindest erkennen, dass sie, die „Ausspionierten“, bereits mit den „Spionen“ zusammenarbeiten, ob sie wollen oder nicht. Offensichtlich kein faires Geschäft.

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