Es waren drastische Worte: „Wir ertrinken, wir haben Todesangst. Ich fühle mich verloren, am Ende. An wen können wir uns wenden? Wie weit werden wir gehen, bevor sich etwas ändert? Sollen wir sinken? Oder uns aufs Meer hinauswagen, trotz unserer Angst?“ Fragen, die sich die junge Melati Wijsen stellt, während sie über eine große Mauer balanciert, die die indonesische Hauptstadt Jakarta vor dem Meer draußen schützen soll. Das Wasser sickert trotzdem von überall herein und lässt die Metropole langsam in den Fluten der Javasee versinken. Schon im Jahr 2050 sollen 95 Prozent des nördlichen Teils unter dem Meeresspiegel liegen, sagt Wijsen. Eine neue, höher gelegene Hauptstadt wird schon auf der Insel Borneo gebaut.
Melati W
Melati Wijsen wurde weltweit bekannt, nachdem sie 2013 als Zwölfjährige gemeinsam mit ihrer kleinen Schwester Isabel und vielen anderen Kindern in ihrer Heimat auf der Insel Bali die erfolgreiche Initiative „Bye Bye Plastic Bags“ gestartet hatte. Ungewöhnlich erfolgreich: Denn 2019 wurden solche Plastiktüten und andere Einwegartikel aus Kunststoff auf der Insel wirklich abgeschafft. Seitdem hat „Bye Bye Plastic Bags“ sich zu einer globalen Marke für erfolgreichen Umweltaktivismus entwickelt. Und Melati spricht wie Greta Thunberg als Changemaker auf dem World Economic Forum und anderen Kongressen weltweit zu den Mächtigen der Erde. Doch mit zunehmender Erfahrung wurde aus dem kämpferischen Mädchen auch eine zweifelnde junge Frau, die erkennen musste, dass der Plastikmüll nur der sichtbarste Teil eines gigantischen globalen Eisbergs an Problemen ist. Und ihr phänomenaler Erfolg auf Bali nur ein erster kleiner Schritt in einem langwierigen Kampf um Veränderung.Eingebetteter MedieninhaltMelatis Fragen sind auch die Leitfragen des Films. Schon 2016 hatte die französische Journalistin und Regisseurin Flore Vasseur mit der Aktivistin auf Bali für einen Fernsehfilm gedreht. Ein Jahr später trat sie dann mit dem Plan für diesen langen Dokumentarfilm an sie heran. Die Idee: Melati als netzwerkenden Reisekader mit anderen jungen AktivistInnen an verschiedenen Orten der Erde vor der Kamera zusammenzubringen. Dabei sind die Objekte des Engagements sehr unterschiedlich, ähnlich sind die angestaute Wut und die Energie der jungen Leute.Mohamad hat in einem Lager im Libanon eine Schule für syrische Flüchtlingskinder aufgebaut. Memory rief in Malawi eine Bewegung gegen sexistisch-gewalttätige Initiationsriten und Zwangsverheiratung ins Leben und erreichte die Erhöhung des Mindestheiratsalters auf achtzehn Jahre. Xiuhtezcatl protestierte schon als Kind gegen das Fracking in seiner Heimat Colorado, seine Energien schöpft er aus Zorn über Konzerne und Regierung und der sich wiederbelebenden indigenen Kultur. Rene hat in den Favelas von Rio die Graswurzel-Zeitung Voz de Comunidade gegründet und berichtet über Alltag, Polizeigewalt und Rassismus. Und Winnie betreibt in Uganda eine Organisation, die Flüchtlinge dort bei einer ökologischen Landwirtschaft unterstützt und damit vor allem Frauen ein selbstständiges Leben ermöglicht.Kaum genug ZeitUnd dann ist da noch die Britin Mary, die vor Lesbos mit einem Motorboot Flüchtlinge aus der Türkei aus dem Meer rettet und im Film im Dialog mit Melati den etwas gestelzt inszenierten Rahmen für die einzelnen Episoden gibt. Es liegt in der Natur dieser episodischen Struktur, dass die einzelnen Stationen mehr illustrierend anerzählt als entwickelt und verzahnt werden. Auch die knappe Drehzeit von sieben Monaten in zehn unterschiedlichen Ländern fordert hier ihr Tribut. Nur etwa zehn Tage war das Team an den einzelnen Stationen jeweils vor Ort. Das ist nicht genug Zeit, um wirklich in eine komplexe Situation einzusteigen. Und die knapp fünfzehn Minuten, die wir beim Zuschauen mit der charismatischen Memory in Malawi verbringen dürfen, reichen gerade für erste Impressionen der dortigen Situation. Diese Oberflächlichkeit spiegelt sich in generalisierenden Ortsbezeichnungen wie „Brasilien“ oder „Uganda“ in den Bauchbinden. Kurze Inserts mit Daten, Zahlen und Fakten zu den einzelnen Ländern machen die Sache nicht weniger plakativ.Wenig verständlich auch, warum das Drehbuch uns eine reguläre Präsenz von Mohamad in „seiner“ Schule im Libanon vorspielt. Erst aus den begleitenden Presseinformationen ist zu erfahren, dass dieser zur Drehzeit des Films schon in Schweden Asyl beantragt hatte und nur unter Hindernissen und Gefahren zum Dreh in den Libanon zurückkam. Diese Umstände mit zu erzählen, hätte den Film sicherlich bereichert. Überhaupt würde jede der Episoden für sich genug Stoff für einen langen Dokumentarfilm bieten. Doch die Zeit und Gelassenheit dafür hat man sich wohl wegen der Dringlichkeit des Themas nicht gegönnt, gerade Melati habe auf Tempo gedrängt, erzählt Vasseur. Schließlich ist es das Hauptansinnen des Films, über das Vorbild der jungen AktivistInnen andere junge Menschen zum Handeln zu motivieren.Dabei spielt neben den erhofften Handlungszielen auch das Gemeinschaftserlebnis selbst eine große Rolle. „It’s like finding your tribe“, sagt Mary über dieses Movens für ihr Tun. Auch Memory spricht von dem Glück, mit einem „bigger you“ über sich selbst hinauszuwachsen, um sich lebendig zu fühlen. Ganz sicher von dieser Kollektivität profitiert hat Melati Wijsen selbst, die sich nach eigener Auskunft zu Drehbeginn in einem schweren persönlichen Burn-out befunden hatte und erst im Austausch mit Gleichgesinnten durch den Film neue Kraft fand. Mittlerweile hat sie mit Youthtopia eine neue Organisation gegründet, die genau in diesem Sinne AktivistInnen weltweit animieren, vernetzen und weiterbilden will. So hat Bigger Than Us zumindest hier schon etwas bewirkt.Placeholder infobox-1