Strände zu Goldminen

Doku Pepe Danquart reist auf Pasolinis Spuren durch Italien und geht dessen Kritik an der rapiden Modernisierung nach
Ausgabe 26/2021

„Alla mia nazione“ – „an meine Nation“ – steht da in weißen Lettern auf schwarzem Grund, „Sprofonda in questo tuo bel mare, libera il mondo“ – „Versinke in deinem schönen Meer, befreie die Welt“. Unter den Versen der Name Pier Paolo Pasolini. Dann Bilder von einem Strand, eine Kamerafahrt entlang gestaffelter Reihen gut besetzter Liegestühle und bunt gestreifter Strandschirme. Eine Stimme aus dem Off erzählt von der Entwicklung des Tourismus in Jesolo. Dazu Interviews mit Touristen und lokalen Managern der Branche, die die Vorzüge ihrer touristischen Angebote und des Ortes erläutern, dessen immer wieder mit Material von außerhalb aufgefüllten Sandstrand einer eine „Goldmine“ nennt. Dann folgt die Kamera einem mit Tüchern behängten dunkelhäutigen Mann, der mit dem mobilen Verkauf seiner Ware auch ein paar Nuggets von dieser Goldmine schürfen will.

Was wie eine Reportage über den Tourismus an der Adria beginnt, ist der Prolog zu einem etwas anders gelagerten Reiseprojekt, das seine Route auf der anderen Seite der italienischen Halbinsel in Ligurien beginnt. 1959 war der wegen seiner Homosexualität aus dem Schuldienst und dem Partito Communista Italiano (PCI) entlassene, nun aufstrebende Schriftsteller Pier Paolo Pasolini von Ventimiglia die Küste des Stiefels entlang über seinen späteren Todesort Ostia, Neapel und Sizilien bis nach Venedig und Triest gereist.

Jetzt hat der deutsche Filmemacher Pepe Danquart die Reise noch einmal unternommen und dabei – ein wenig Auto-Fetischismus muss sein – mit einem knuffigen schwarzen Fiat Millecento auch das gleiche Gefährt wie Pasolini damals gewählt. Bei solch deutlichen Indizien praktizierter Männerfreundschaft mag einem zuerst etwas mulmig werden, schließlich hat Danquart zuletzt sein Politikerporträt Joschka und Herr Fischer (2011) in der kumpelhaften Anbiederung zwischen den beiden badischen Ex-Spontis versenkt. Doch diesmal hat der Filmemacher ein Programm auch jenseits von Pasolini und eine breite Vielfalt an Gesprächspartnern als Gegenüber.

Etwas männerlastig ist das Ganze trotzdem. Und ein klein wenig beschönigt wird auch: Denn wenn laut einem Insert zu Beginn des Films die Reise mit dem Ziel unternommen wurde, „die gesellschaftlichen Veränderungen zu dokumentieren“, unterschlägt dies, dass Pasolini als Journalist mit einem Fotografen im Auftrag des Lifestyle-Magazins Successo unterwegs war. Außer Frage steht, dass er sich als aufmerksamer und leidenschaftlicher Beobachter von Geschichte und Gegenwart seines Landes brennend für die gesellschaftlichen Umbrüche interessierte, die der Wandel von einer katholischen, feudal-agrarischen Gesellschaft in eine ökonomische und kulturelle Moderne mit sich brachte.

Die Zukunft von damals heute

Aus dieser Reisereportage stammt der von Ulrich Tukur in etwas zu literarischem Ton eingesprochene Kommentar. So entsteht eine dreifache Zeitschichtung, wenn die Beschreibungen eines damals als verändert erlebten Italiens (die selbst immer auf ein Davor verweisen) von den filmischen Bildern und Stimmen der Gegenwart überlagert werden. Dabei entgeht Danquart der Versuchung , Orte mit allzu plakativen Veränderungen zu suchen. Stattdessen montiert er neben Straßenpanoramen, Totalen des genuesischen Hafens, kalabrischen Landschaften und verlassenen Dörfern als vermittelnde Zeitbrücke immer wieder kurze Szenen mit Super-8-Film-Optik oder schwarz-weiße Dokumentar-Fragmente. Dazu sehr sparsam akzentuierende melancholische Musik.

Als Leitmotiv für die Reise lässt der Film zu Beginn Pasolini selbst zu einem Publikum sprechen: Von seiner Liebe zum italienischen Volk, das er ebenso als Teil Europas wie Teil der Dritten Welt sehe. Lebendige Zeugen des Films sind Menschen, die dem Künstler, Pädagogen und Kommunisten auf die eine oder andere Weise verbunden sind: Eine einst aus dem Mezzogiorno an die Riviera gekommene Barbesitzerin, die jetzt geflüchtete Frauen unterstützt. Ein Fischer, der die Plünderung des Mittelmeeres beklagt, doch das Glück der Freiheit bei seiner Arbeit beschwört. Ein Hafenarbeiter, der Pasolini-Aficionado ist. Im von faschistischer Architektur geprägten Stadtzentrum von Sabaudia lässt Danquart sich Pasolinis Diagnose des Konsumismus erklären. Und ein alter Herr, der einst als Kind mit Pasolini Fußball spielte, rezitiert aus dem Gedächtnis minutenlang aus einem visionären Gedicht, das von Afrika über das Mittelmeer gen Norden ziehende Flüchtlingsboote und deren Weiterfahrt nach Paris und London imaginiert.

Die Bewegung von Menschen und Warenströmen kristallisiert sich bald zum roten Faden des Filmessays, in dessen zweiter Hälfte die afrikanischen Migranten auch mit eigener Stimme zu Wort kommen. Verarmte Gemüsearbeiter, die um jedes Stückchen Brot kämpfen. Ein philosophierender Schäfer. Oder ein Schneider, der in Palermo seine eigene Werkstatt etabliert hat und lächelnd erzählt, dass er nach Paris nur zum Einkaufen, „wie ein Tourist“, fahre.

Die anderen Touristen auf den als Vexierspiegel der migrantischen Reisen in den Film montierten Bildern des Over-Tourismus aus Capri oder Venedig bleiben dagegen stumm. Die unterschiedlichen, durch die Figur Pasolini fokussierten regional und historisch verschränkten Perspektiven des Films auf die Schönheiten und Verwerfungen Italiens machen Vor mir der Süden zur bisher stärksten Arbeit Pepe Danquarts – und weisen selbstverständlich an vielen Stellen weit über das Land hinaus.

Info

Vor mir der Süden Pepe Danquart Deutschland 2020; 115 Minuten

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