Aktionärsversammlungen sind selten ein Genuss. Die meiste Zeit sitzen die Anleger zusammengesunken in ihren Stühlen, grunzen zustimmend, schnaufen ablehnend, und warten darauf, dass das Catering beginnt. Dabei werden die besten Geschichten sowieso nicht am Rednerpult, sondern am Buffet geschrieben. Wie vor einigen Tagen bei Daimler. Dort servierte man den 5.500 Anteilseignern zu Mittag rund 12.500 sogenannte Saitenwürschtle. Was folgte, war eine durch und durch schwäbische Tragödie.
So soll ein Aktionär (Akt I, Exposition) gleich mehrmals Würstchen zum Mitnehmen in eine Tüte gesteckt haben. Zu viel Unrecht für eine weitere Anteilseignerin, die den Kollegen auf seine Naturaliendividende ansprach (Akt II, erregendes Moment). Der Schlagabtausch verschärfte sich (Akt III, Klimax), bis die Berliner Polizei den Konflikt lösen musste. Der Würstchendieb wurde zur Rede gestellt (Akt IV, Retardation), worauf die Anteilseignerin Strafanzeige (Akt V, Katastrophe) wegen Beleidigung stellte. Aristoteles hätte bei dieser Regeldramatik feuchte Augen bekommen. Ob die Protagonisten nun abschließend kathartisch geläutert sind, bleibt offen.
Daimler-Aufsichtsratschef Manfred Bischoff kündigte jedenfalls an, nächstes Jahr entweder mehr oder gar keine Würstchen mehr anzubieten. Es gilt jedoch als ziemlich sicher, dass die Aktionäre lieber auf die Dividende denn auf die Saitenwürschtle verzichteten. Aber kann man unserem schwäbischen Helden nun wirklich böse sein? Immerhin ist er auch nur das arme Würstchen am Bändel der Großkonzerne. Und wenn man ehrlich ist, gibt es auch gute Gründe für den Fleischklau.
Stichwort Panama Papers: Im Gegensatz zu Finanzhaien, die ihr Geld in Steueroasen verschiffen, ist ein Anleger, der am Daimlerbuffet Würstchen hamstert, ein eher überschaubares Problem. Am Ende will er wahrscheinlich einfach nur einen Snack für die Rückfahrt. Und zwar nicht in der S-Klasse, sondern im 2.-Klasse-Waggon. Vielleicht sogar im Reisebus. Zudem besitzt er vermutlich keine Briefkastenfirma. Ja, gut möglich, dass der würstchenklauende Kleinanleger sogar Steuern zahlt. Hier, bei Daimler, zwackt er sich deshalb nur ein Quantum Genugtuung ab. Die Tupperdose ist die Briefkastenfirma des kleinen Mannes. Glaubt man den Stuttgarter Nachrichten, ist unser schwäbischer Protagonist aber nur die Spitze des Eisbergs.
In Berlin habe sich mittlerweile eine „Hardcore-Szene“ aus Rentnern etabliert, die ihren „Tagesplan am Hauptversammlungsgeschehen“ (genauer: dem Hauptversammlungs-Catering) ausrichtete. Diese Szene ist weder rechts noch links, sie hat einfach Hunger. Sie futtert sich durch die Messehallen wie Termiten durch einen Ikea. Eine kulinarische Querfront, die begriffen hat, dass Steuerschulden und überhöhte Bonuszahlungen nicht vor Gericht, sondern am Buffet beglichen werden.
Wenn Sie glauben, hier würde sich über Buffetdiebe lustig gemacht, liegen Sie falsch. Wissen Sie was? Vergessen Sie das „überschaubare Problem“. Buffet-Hooligans sind eine ernstzunehmende Gefahr. Laut dem ehemaligen Finanzvorstand von Beiersdorf, Ulrich Schmidt, gehen rund zehn Prozent der Kosten einer Hauptversammlung nur für das Catering drauf. Zehn Prozent! Wenn der Gefrierbeutel erst zur Standardausrüstung wird, war’s das mit den dicken Boni. Dann schieben sich die Aktionäre Würstchen rein, und der Vorstand nagt am Hungertuch. Da kann man ruhig schon mal die Polizei rufen.
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