Der Aufwand des Fischens

Film Filetieren im Akkord ist ein Extremsport auf hoher See. „Leviathan“ von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel betreibt Arbeitsethnografie mit digitalen Bildern

Die „GoPro Hero HD 3“ wiegt gerade mal 77 Gramm. Bei dem Gerät handelt es sich um eine aktuelle Actioncam, die sich vor allem als Helmkamera bei Bungee-Jumpern, Surfern und Funkbikern einer großen Beliebtheit erfreut. Man schraubt das Teil mit wenigen Handgriffen auf die Haube und springt, segelt, fährt los. Nach der Leibesübung lassen sich dann extrem subjektiv aufgeladene Wackelbilder als Beweisstück in den sozialen Netzwerken hinterlegen. Dokumentiert wird also nicht nur ein engagiert performtes Freizeiterlebnis, sondern auch eine Erfahrungsperspektive.

Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel haben einen anderen Zugang zu diesen Kameras gewählt, der scheinbar weniger mit Funsport als mit Feldforschung zu tun hat. Die beiden filmen im disziplinären Rahmen des „Sensory Ethnography Lab“ der Harvard Universität. Die Datenakquise dieses Instituts erfolgt in erster Linie im Medium des Digitalbildes.

Das vordergründige Objekt ihrer aktuellen Studie ist die Fischindustrie vor der Küste von New Bedford, Massachusetts. Dass der dabei entstandene Film anspielungsreich Leviathan betitelt wurde, deutet schon darauf hin, dass hier nicht mit dem klassischen Methodenbesteck von Anthropologie und Ethnologie Milieuanalyse betrieben wird. Mehrere Monate lang hielten sich Castaing-Taylor und Paravel auf einem Fischdampfer auf, genauer gesagt: einer Fabrik in Schiffform, bei der das maschinelle Einholen der Großnetze gleich auf hoher See in Verwertungsprozesse übergeht. Hier wird im Akkord filetiert.

Die konventionellen Perspektiven teilnehmender Beobachtung, wie sie der Tradition des anthropologischen Dokumentarfilms entsprechen, werden in Leviathan schon kameratechnisch gesprengt. Es kamen ausschließlich besagte Actioncams zum Einsatz. Ein Teil des Bildmaterials lässt sich als klassisch erlebnisdokumentarisches GoPro-Footage einordnen. Die auf Arbeiterhelmen montieren Mikrokameras zeigen die Industriefischerei als den Hochsee-Extremsport, der sie faktisch ist.

So wird man seekrank

Gleichwohl zielt der Film als Ganzes nicht auf eine Montage intensiver, subjektiver Einstellungen, sondern eher auf die Aushebelung des Prinzips anthropomorpher Perspektivierung. Postuliert wird das Autonomwerden eines digitalen Kameraauges, das über den blutgetränkten Schiffboden rollt, sich an Netzmaschen und Seile klammert, um durch Abflussöffnungen ins Meer stürzen zu können. Wenn der Film zur Ruhe kommt, dann nur kurz: in Duschkabinen mit völlig erschöpften Arbeitern, Auge in Auge mit zerfledderten Fischkadavern.

Was wir hören, ist eine durchkomponierte Surround-Soundscape des Klangkünstlers Ernest Karel. Was wir sehen, sind phasenweise höchst abstrakte Bilder, die sich jeder dokumentarischen Lesbarkeit verweigern, zugleich aber wirkungsästhetisch durchaus stur aufs Seekrankwerden im Kino abzielen.

Unter die Faszination für die sensorische Ereignishaftigkeit mischt sich jedoch ein Zweifel. Die ozeanischen Naturbilder sind eben auch Naturbeherrschungsbilder, die sich sehr kleinen, sehr widerstandsfähigen High-Tech-Geräten verdanken. Sie liefern enigmatische Schlachtbilder der kommerziellen Meeresfischerei – spektakulär entfesselt, aber frei von Emphatie. Was man sich daher fragen kann – ob hier nur eine Schifffabrik lärmt oder doch auch die Unmittelbarkeitsrhetorik von New-Media-Kunst.

Leviathan USA/GB 2012, 83 Min. Simon Rothöhler gibt cargo-film.de mit heraus

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