Raus aus der EU!

Europa „Wenn es die Europäische Union nicht gäbe, man würde sie heute nicht mehr erfinden wollen“ schreibt Jakob Augstein im aktuellen Spiegel. Aber das ist falsch. Eine Replik

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Eingebetteter Medieninhalt

Wenn es die Europäische Union heute nicht gäbe, dann bräuchten wir sie dringender denn je. Jakob Augstein wird nicht leugnen können, dass Europa ohne die EU heute anders aussähe. Ich bezweifele, dass wir uns darüber beschweren würden, dass Frankreich ein „Polizeistaat“ wäre, dass in Polen „katholische Fundamentalisten“ an der Macht wären und dass Viktor Orbán „auf den Trümmern des Liberalismus tanzt“. Es wäre schlimmer.

„Raus aus der EU!“ titelt die aktuelle Ausgabe des COMPACT Magazins, das Hausblatt der AfD, der Pegidisten und Verschwörungstheoretiker.

Schuld ist Angela Merkel?

Das Vermächtnis Angela Merkels könnte ungeheuerlich sein: Hat sie Europa auf dem Gewissen?“ Wer erraten kann, von wem dieses Zitat stammt, muss ein Hellseher sein. Es ist von Jakob Augstein. „Die große Zerstörerin“? Auch von Jakob Augstein? Falsch: Überschrift des Artikels von Michael Klonovsky (ehemals Journalist beim Focus, seit 1. Juni Berater von Frauke Petry) in der aktuellen COMPACT Ausgabe. „...momentan zerstört sie … den sozialen Frieden und auf längere Sicht den Souverän, den zu vertreten und zu schützen eigentlich ihr Amt wäre“, das ist nochmal Klonovsky. „Angela Merkels Mut reichte gerade mal aus, um mit unserem Geld die Banken zu retten“, das ist nochmal Augstein.

Es ist oft erstaunlich, wie sich Linke und Rechte in ihren Aussagen gleichen. „Adieu, Europa“ ist Jakob Augsteins Kolumne betitelt, „Raus aus der EU!“ titelt COMPACT. Und Schuld ist immer Angela Merkel.

Die EU ist am Ende?

Doch das stimmt nicht: die EU ist nicht gescheitert, Angela Merkel hat Europa nicht auf dem Gewissen. Die Probleme, die zum Erstarken der Rechtsextremisten in Europa geführt haben, hat nicht Angela Merkel zu verantworten: Die Linken haben versagt. Es reicht offensichtlich nicht, „Im Zweifel links“ zu sein. Aber es ist offensichtlich links, „den unumkehrbaren Schritt zur politischen Union“ der EU zu fordern und sich dann darüber zu beschweren, dass das Europa der Institutionen „hohl geworden“ sei. Das Argument der Rechten ist aber das gleiche: die EU ist undemokratisch und müsse daher abgewickelt werden. „Europa ist am Ende“ sagt dann auch Jakob Augstein. Alles verschwimmt, wenn es zu Ideologie wird.

Eine „Chance zur Stärkung Europas“ sei nicht genutzt worden. Ich weiß nicht mal, was Jakob Augstein unter „Europa“ versteht. Es kann doch nicht das Ziel sein, eine unumkehrbare politische Union zu schaffen. So schön das klingen mag, unter Europa verstehe ich in erster Linie die europäische Bevölkerung. Würde die EU sich etwas mehr um die Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa kümmern, dann wäre das ein erster Schritt auf dem Weg zu mehr Akzeptanz. Würde sie demokratische Reformen in Brüssel angehen, wäre es außergewöhnlich. Geht es weiter nur um die "immer engere politische Union" ohne Inhalte, dann wird die EU sterben.

Die politische Union ist die Vision der Linken, das ist aber Unsinn, solange eine solche Union nur den „Eliten“ nützt.

Europa steht am Anfang einer Entwicklung

Die europäische Bevölkerung will keine politische Union, die europäische Bevölkerung will keine Vision der Linken oder der Rechten verwirklicht sehen. Die europäische Bevölkerung will eine humanistische Union. Das ist die Aufgabe der Europapolitiker und der Nationalstaaten.

Und das sollte auch das Ziel der Linken sein: Europa jetzt den Niedergang zu attestieren, ist zynisch. Wer so argumentiert, egal ob von rechts oder von links, ist bemitleidenswert. Europa hat die einmalige Chance, zu einem Kontinent zu werden, der nicht mehr kämpft: Wenn die moralischen Egoismen der Linken und die materiellen Egoismen der Rechten keine Rolle mehr spielen, dann wäre das der Idealzustand. Dazu müssen aber alle auf etwas verzichten. Aber dafür würden auch alle etwas gewinnen: Mehr Gerechtigkeit.

Die Zeit für Nationatstaaten ist vorüber

Es wird Zeit, dass wir in Realität ankommen. Wir leben in einem Zeitalter der Umbrüche, das ist spätestens klar, seit wir eine Million Flüchtlinge aufgenommen haben. Das war der Anfang einer Entwicklung, die man als „vollständige Globalisierung“ bezeichnen muss. Und es hilft nicht, sich zu wünschen, dass Europa anders aussieht. Europa hat vielleicht nicht immer sein Bestes gegeben, aber es wird noch genug Anlässe geben, das zu tun.

Mauern helfen nicht

Die Probleme unter denen Europa leidet, sind nicht gelöst, sie fangen erst an: Die „Flüchtlingskrise“ ist noch nicht vorbei, sie wird auch aufgrund anderer Entwicklungen nicht aufhören. Die Klimaerwärmung wird dabei in Zukunft eine Rolle spielen, weil mehr Landstriche unbewohnbar werden. Das Ansteigen des Meeresspiegels wird die gleichen Auswirkungen haben. Solange die Problem im Nahen Osten und Afrika anhalten, wird der "Migrationsdruck" auf Europa nicht nachlassen. Es wird nicht reichen, die Türken eine Mauer bauen zu lassen. Europa muss einsehen, dass keine Politik, die die Mehrheit der Bevölkerung wählen würde, uns vor einschneidenden Änderungen unserer Lebensweise schützen wird. Die Frage ist nur, welche Partei das als erstes erkennt und die notwendige Entwicklung befürwortet. Denn wir brauchen nicht weniger EU, wir brauchen mehr EU. Kein Land wird die Herausforderungen, die noch kommen werden, alleine bewältigen können. Sicher nicht Griehcneland und Italien.

Raus aus der EU, rein in die EU+

Am Ende der Entwicklung Europas und der EU muss eine demokratische EU stehen: die Bürger der EU wählen ein europäisches Parlament, welches dann die europäische „Regierung“ wählt. Eine EU, die von der europäischen Bevölkerung befürwortet wird.

Das Europa der Nationalstaaten ist am Ende, das Europa der Vaterländer ist am Ende: die EU ist längst eine Transferunion, so wie Deutschland es auch ist und immer war. Die reichen Bundesländer subventionieren die „armen“. Bayern stünde nicht dort, wo es jetzt steht, ohne den Länderfinanzausgleich. Das war mehr Deutschland. Genau so wäre es mehr Europa, wenn wir in Griechenland und Spanien investieren würden. Das Geld käme so oder so zurück. Nur das Konzept der Vaterländer, der Nation und des Nationalstolzes hält uns davon ab, Europa in eine echte Transferunion zu verwandeln. Es gibt aber keine Alternative, genauso wie es sie in Deutschland mit den großen regionalen Unterschieden nicht gab. Am Ende führt das zu mehr Gemeinschaft, zu mehr Europa für alle. Vielleicht bedeutet das weniger Nationalstaat, aber es bedeutet mehr Demokratie.

Die Linken haben versagt

Wenn die Rechten davon profitieren, geben die Linken den selben Politikern die Schuld, wie die Rechten. Das ist das Perverse an Politik: „Die Zeit für Appelle ist vorüber“ ist eine unpolitische Aussage, die sowohl bei den Linken als auch bei den Rechten nur bedeutet: „Die Diskussion ist vorbei“. Nur kann es diese „Selbstermächtigung der Politik“ niemals geben, denn was Jakob Augstein in seiner Kolumne verschweigt, ist die Tatsache, dass selbst Bofinger, Habermas und Nida-Rümelin diese Selbstermächtigung nur „zu dem vernünftigen Preis einer Übertragung von Souveränität auf europäische Institutionen und einer gemeinschaftlichen Haftung“ vorgeschlagen haben. Und das würde die Mehrheit der europäischen Bürger unter Umständen derzeit wohl nicht als eine „Hinwendung zur demokratischen Realität“ bezeichnen.

Überhaupt sollten die Linken den politischen Raum wieder erobern, anstatt sich in Flügelkämpfen aufzureiben und genauso wie die Rechten zu argumentieren. Die Linken sollten sich wieder ihrer selbst ermächtigen und die Diskussion nicht den konservativen Parteien überlassen. Denn sollten Europa und die EU scheitern, dann ist die Frage nach der Schuld müßig. Aber würde man sie stellen, dann wäre die Antwort eindeutig: Die linke Mehrheit trägt die Verantwortung. Damit sind wir alle gemeint. Es wäre das Vermächtnis der Linken: Sie hätten Europa auf dem Gewissen. Wir brauchen die EU mehr denn je, denn ohne die EU sähe Europa ganz anders aus.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden