Cheat neutral

Markt und Moral Ein Markt, der sich in alle Lebensbereiche ausbreitet, korrumpiert uns. Darüber schreibt Michael J. Sandel in seinem Buch "Was man für Geld nicht kaufen kann"

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Michael Sandel
Michael Sandel

Haben Sie Ihren Partner betrogen und haben Sie deswegen jetzt ein schlechtes Gewissen? Auf der Internetseite cheatneutral.com können Sie Ihr Gewissen beruhigen. Sie bezahlen einfach 2,50 Pfund und die Seite investiert das Geld, um anderenorts monogame, treue oder schlicht beziehungslos lebende Menschen zu unterstützen.

Michael J. Sandel erwähnt diese Seite in seinem Buch „Was man für Geld nicht kaufen kann“. Der politische Philosoph, der seit 1980 an der Harvard University lehrt, beschäftigt sich in diesem Buch mit dem Umstand, dass wir in einer Zeit leben, in der der Markt in immer mehr Bereiche unseres Lebens vordringt. Amerikanische Schulkinder werden für gute Noten oder gelesene Bücher bezahlt (seitens einiger Schulen, nicht etwa seitens der Eltern), die amerikanische Greencard kann man erhalten, wenn man einen bestimmten Geldbetrag in Amerika investiert und dabei eine bestimmte Anzahl von Arbeitsplätzen schafft, indische Leihmütter tragen gegen Geld Kinder aus.

Sandel ist kein Feind der Marktwirtschaft, doch er verlangt, dass wir uns die Frage stellen, welche Folgen diese Ausbreitung des Marktes auf unser Leben hat und ob wir diese Folgen gutheißen können oder nicht.

Bei der Beantwortung dieser Fragen stehen für Sandel zwei Aspekte im Mittelpunkt: die Gerechtigkeit und die Korrumpierung. Während es auf der Hand liegt, dass es ungerecht ist, wenn der Privatpatient im Krankenhaus im Einbettzimmer liegt (auch wenn er dafür in den sauren Apfel der Chefarztbehandlung beißen muss), während die gesetzlich Versicherten mit Mehrbettzimmern Vorlieb nehmen müssen, ist die Behandlung des Aspektes der Korrumpierung die Lektüre des Buches allemal wert.

Der sogenannte Korrumpierungseffekt bezeichnet den Vorgang, bei dem primäre, in der Sache liegende Motivationen durch sekundäre, externe Motivationen ersetzt werden. Bezahlt man Kinder dafür, dass sie ein Buch lesen, dann besteht die Gefahr, dass sie sich daran gewöhnen und die Lektüre eines Buches nicht mehr als Selbstzweck ansehen (Lesevergnügen, neue Einblicke), sondern nur noch als Mittel, um über seltsame pädagogische Zusammenhänge zu einer Aufbesserung ihres Taschengeldes zu kommen. Durch die Koppelung der Staatsbürgerschaft an die Investitionsbereitschaft des Einzelnen besteht die Gefahr, dass innerhalb eines Staatsvolkes mehr und mehr lediglich darauf geschaut wird, wie groß der materielle Beitrag des Einzelnen ist. Solidarität, gegenseitige Hilfsbereitschaft bleiben auf der Strecke. Wer schließlich indische Frauen als Leihmütter bezahlt, der leistet der Entwicklung Vorschub, den weiblichen Körper lediglich auf ein gewisses Funktionieren zu reduzieren (der Zusammenhang zum Thema Prostitution drängt sich auf).

Die Internetseite cheatneutral.com ist nur ein Scherz. Dort heißt es: Cheatneutral is about offsetting infidelity. We're the only people doing it, and Cheatneutral is a joke.“ Die Seite persifliert einen Vorgang, den wir schon von einer bestimmten Form des kirchlichen Ablasshandel kennen. Die Möglichkeit, die eigenen Sünden durch eine Geldspende an die Kirche gewissermaßen auszugleichen, birgt die Gefahr, dass die Sünde als ein bloßes marktfähiges Produkt angesehen wird, welches man sich „leisten“ kann wie eine Reise oder neue Kleidung.

Ein vergleichbarer Vorgang aus der heutigen Zeit ist die Möglichkeit, eigene Umweltsünden durch eine Spende für ein Umweltschutzprojekt „auszugleichen“. Eine solche Möglichkeit bieten etwa Fluggesellschaften an, quasi als Rundum-Sorglos-Paket. Der Flug soll nicht nur sicher und bequem sein, sondern er soll auch mit reinem Gewissen stattfinden können. Dass auf diese Weise nicht weniger Kohlendioxid ausgestoßen wird, dass das Umweltprojekt möglicherweise auch unabhängig von der Nutzung eines Flugzeuges Unterstützung verdient, wird ausgeblendet.

Bei Sandel geht es um Moral. Er ist der Auffassung, dass unsere Wirtschaft nicht allein mit der Logik des Marktes beurteilt werden kann. Zu Recht stellt der Autor fest, dass die Moral in öffentlichen Debatten eine zu geringe Rolle spielt. Moralische Ansichten sind uns oft peinlich, außerdem bergen sie größeres Konfliktpotential als Ansichten, die sich lediglich auf das Ziel materieller Optimierung berufen. Es geht Sandel eher darum Fragen aufzuwerfen, anstatt Antworten zu geben. Auch deswegen ist er einer der populärsten Moralphilosophen unserer Zeit.

Michael J. Sandel: Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes. Ullstein, 304 Seiten, gebunden, 19,99 €

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden