Werte, Waffen, Willkür

Grüne im Bundesrat Offener Brief an Winfried Kretschmann, Verhandlungsführer der Grünen im Bundesrat.

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Lieber Winfried Kretschmann,

aus der Teilnahme an diversen Bürger-Informationsveranstaltungen zu plötzlich, huch - übermorgen ankommenden Flüchtlingen in den jeweiligen Kommunen, lassen sich deutliche Erkenntnisse ablesen.

1) Angst fressen Seele auf - Bei manchem ist schon alle.

Diffuse Ängste von Bürgern, die sich erstens dadurch auszeichnen, dass sie mehr oder weniger noch nie ihren Landkreis verlassen haben, und somit über Null eigene Erfahrung mit anderen Kulturen verfügen. Daraus leitet sich zweitens ab. Diese Bürger äußern ihre "eigene" Meinung, oftmals sogar im Originalwortlaut, mit den schlagkräftigen Hetz-Schlagzeilen und TV Beiträgen der vergangenen zehn Jahre (Seuchen und Vergewaltigungswellen, IS-Straßenkampf in Deutschland, Einbrüche, Asyl-Tourismus, Schmarotzer etc.)

2) Staatsfeinde und Demokratie-Entkoppelte

Es ist vorherrschende Meinung in Deutschland, dass die Politiker für ihr Wohlergehen verantwortlich zu machen sind. Eigene Mitgestaltung, was auch Arbeit bedeutet, ist vielen Menschen fremd. "Das Helfen ist nicht meine Aufgabe, dafür zahle ich schließlich Steuern, das ist Aufgabe des Staates/der Politik." sind weit verbreitete Aussagen. Könnte man ihnen vorwerfen, wenn sich die Politik nicht ständig staatsmännisch "Wir schaffen das, wir richten das schon" auf die Fahne schreiben würden, obwohl sie auf ganzer Linie versagen. In sehr verkürzter Analyse bildet das einen Hauptgrund für die zunehmende Wahlenthaltung. Wir stehen am Scheideweg der Demokratie. Es gibt einen Konsens in den Veranstaltungen. Niemand, wirklich niemand, hilfsbereit oder in vollständiger Flüchtlingsabwehr fühlt oder sieht in der herrschenden Politik irgendeine Chance.

3) Was ist der Plan? Wo soll das alles hinführen?

Das ist die Mehrheit in diesen Veranstaltungen. Das sind die anderen, zu recht besorgten Bürger. Sie hinterfragen die Außen- und Wirtschaftspolitik der EU und Deutschlands. Sie fragen nach (ausgebliebener) Wiederaufbauhilfe in den Herkunftsländern, nach zukünftig tragfähigen Konzepten - einem Plan für die Zukunft. Die wissen, dass die "Klima-Flüchtlinge" in den aktuellen Zahlen noch nicht enthalten sind (Ein Top Thema für Paris 2015, wenn man mich fragen würde)

Lieber Winfried Kretschmann,

bist Du ernsthaft der Überzeugung, dass eine Zustimmung zum Vorschlag der CSU, dem politischen Arm der Pegida-Bewegung (Dank für diese Begriffskreation an den Kabarettisten Christoph Sieber), irgendeine der oben genannten Erkenntnisse lösen würde? Bitte mach' keine Politik für medial veröffentlichte Meinungen; sie hat nichts mit der öffentlichen Meinung zu tun. Diese wird nur mit zunehmender Dauer der veröffentlichten Meinung verfälscht und manipuliert; offensichtlich auch Deine.

Was sagt eigentlich Frankreich?

Die gute alte(s) Europa Kolonialmacht Nummer 1, westlich des Rheins, hält sich in den vergangenen Wochen erstaunlich bedeckt zum Thema Flüchtlinge. Wohl aus zwei Gründen; der erste Grund ist derselbe wie auch unser Schweigen zum Thema: Das erforderliche notwendige Eingeständnis, dass sie, wie wie auch wir, mit der bis heute rigoros praktizierten und tabuisierten Außen- und Wirtschaftspolitik maßgeblich vollverantwortlich für die Zustände in den Herkunftsländern sind.

Zweitens, eine unerträglich erstarkende Marine Le Pen und ihr Front National, die die ureigene Gemeinwohl-orientierte französische Mentalität zunehmend in die nationalistische Zange nimmt. Sie erzeugt das Schweigen von Mehrheiten (das kennen wir in Deutschland gut aus der Historie); und genauso wie in Frankreich, ist die Spaltung und das Misstrauen zwischen (ehemals) moderaten gewählten Volksvertretern und Bevölkerung so weit vorangeschritten, dass sich beide Gruppen nicht mehr über den Weg trauen, und sich in der Folge auf ihre Übersetzungsorgane verlassen: Presse und Umfrageergebnisse.

Die marktkonforme Geiselhaft der Demokratie

Sowohl die Politik als auch die fernsehende und lesende Bevölkerung singen in unterschiedlichen Oktaven das nach, was die Presse zu wissen glaubt, auflagefördernd zusammen fabuliert, oder "before it's news - gereutert" bekommt.

Die marktkonforme Geiselhaft der gesamten europäischen Demokratie ist in vollem Gange. Sie kann niemals damit beendet werden, wenn wir immer mehr Verfassungswidrigkeiten in unsere Verfassung schreiben, und sie damit langfristig legitimieren. Das hat schon Mal jemand getan, jede Menge Richter sich selbst durch ihre eigene Paragraphen-Treue zweckentfremdet vergewaltigen lassen. Danach entstand der Satz "Wehret den Anfängen!", und solche Anfänge liegen bereits seit Jugoslawien-Völkerrechtsbruch und Agenda 2010 hinter uns, während CETA, TTIP und TISA direkt vor uns liegen. Wir dürfen diesen Weg nicht weiter gehen - Wir müssen ihn umkehren!

Lieber Winfried Kretschmann,

die bayrische Stammtisch-Fraktion hat es bereits geschafft den Koalitionsvertrag zu einem Teil des Grundgesetzes zu deklarieren; das ist er nicht! Der Gesetzesentwurf entstammt einem Gefeilsche eines Koalitionsgipfels - was auch immer das sein mag - Das Gremium existierte bisher nicht im Grundgesetz. Lass' Dich und die gesamten Grünen, von Basis bis Bundesvorstand und Bundesrat, nicht vor diesen Karren spannen!

Wenn dieser Gesetzesentwurf durch die Stimmen der Grünen im Bundesrat durchgeht, dann möchte ich daran erinnern, dass die Einflussnahme der Grünen sich im Anschluss auf null reduziert, und den Stab an die 80% Bundestag übergeben wird. Und danach in die deutschen Verwaltungsagenturen. Dazu ein sehr altes chinesisches Sprichwort: "Wenn der falsche Mann die richtigen Mittel verwendet, arbeiten die richtigen Mittel auf die falsche Weise."

Mit einer Zustimmung zu diesem Gesetzesentwurfs im Bundesrat wird die heute mögliche Chance der Grünen zerstört, sich mit entsprechenden Vorstößen und gegensätzlichen Gesetzesentwürfen gegen die gesellschaftliche Spaltung und nachgewiesener zunehmender sozialer Ungerechtigkeit zu Wehr zu setzen, und gemachte Fehler zu korrigieren. Einfach, weil sie dadurch (erneut) ihre Glaubwürdigkeit verlieren.

Was Deinen anstehenden Wahlkampf betrifft. Unterschätze nicht die Vernunft Deiner Wähler. Es ist nicht die Minderheit der Bevölkerung, die sich in den Flüchtlingsinitiativen engagiert. Es ist die Mehrheit, ansonsten wäre die Situation in den letzten Wochen schon lange kollabiert. THW, DRK & Co. werden das bestätigen.

Stell' Dich vor, diese Menschen fordern die Antworten auf ihre Fragen ein. Was ist der Plan? Wo soll das hinführen? Ja genau, der Adressat ist die Weltpolitik. Es steht nirgendwo geschrieben, dass ein Ministerpräsident von Baden-Württemberg oder ein Bundesvorstand einer deutsch Oppositionspartei diese Fragen nicht formulieren darf. Man muss sie sogar formulieren. Jeder Kommunalpolitiker, jeder Landespolitiker, jede Oppositionspartei ist aufgefordert sich von ihrer stufenweise zugewiesenen Untertanenposition zu verabschieden und aufzustehen. Sie alle sind gewählte Volksvertreter, also sollen sie bitte die Stimmen des Volkes vertreten. Die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland denkt (noch) und hilft selbstlos. Die gilt es zu vertreten, nicht die unreflektierten Nachsinger.

Mit grünen Grüßen

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sonja Karas

Unternehmerin, Kommunikationsberaterin, Transition Politician. Schreibt was, wenn es aus dem Grundrauschen hervorsticht und es die Zeit erlaubt.

Sonja Karas

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