Free Palestine from German guilt!

Deutsch-Identitäres Seit Jahren finden sich Studierende, Forschende, Künstler*innen und andere von überallher in Berlin ein. So sehen auch sie sich, wie immer schon die Berliner Palästinenser*innen, mit dem bizarren deutsch-identitären Diskurs konfrontiert.

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Der 15. Mai 2021 in Berlin ist nicht vergessen. Dafür war es für Tausende Neu-oder-immer-schon-Berliner*innen eine zu schöne Überraschung, was sie an diesem Tag miteinander erlebten. Doch Medien, Stadt und Polizei wollen vergessen, was auch sie an jenem 15. Mai in den Straßen von Kreuzberg und Neukölln sahen und hörten, als sich rund 6000 Menschen zum Gedenken an die Nakba, die palästinensische Katastrophe, versammelten.

Die Demonstration war von der relativ jungen Initiative Palästina Spricht angemeldet worden, einer „Koalition für palästinensische Rechte und gegen jede Form von Rassismus“. Es war die größte von mehreren an diesem Tag zum Nakba-Gedenken angemeldeten Demos. Sie war inhaltlich und im Stil so unattraktiv für Rechte wie die Grauen Wölfe oder Erdogan-Anhänger*innen oder auch von hilfloser Wut Getriebene – dass die nicht einmal versuchten sich anzuschließen.

Und eben deshalb war diese Demonstration für die Medien uninteressant, keine Zeile, kein Foto wert. Sie konnten im Demo-Aufruf nichts finden, was ihre Vorurteile bestätigt hätte. Auch die Demonstration selber gab nichts her, was ihr aus den immer gleichen Versatzstücken zusammengesetztes Narrativ über deutsche Verantwortung, Israel, Antisemitismus und „die Palästinenser“ erneut bestätigt hätte.

Die Polizei begleitete selbstverständlich die Demo, Anmelder*innen und Ordner*innen kooperierten. Und das taten wunderbarerweise diesmal auch die begleitenden Ordnungshüter*innen. Es lief also für alle Beteiligten bestens, was jedoch die Berliner Polizei nicht hinderte, in den beiden darauf folgenden Jahren alle weiteren von Palästina Spricht angemeldeten Demos zu verbieten und die Verbote damit zu begründen, dass man nach den Erfahrungen des Vor- bzw. Vorvorjahres Hasstiraden und antisemitische Hetzte zu erwarten hatte.

Worin bestanden diese Erfahrungen?

Diejenigen, die damals friedlich und hochgestimmt durch Kreuzberg und Neukölln zogen, stellten glücklich-verblüfft fest, dass sie viele waren, ganz Unterschiedliche mit individuell formulierten Aussagen und Slogans, mit denen sie sich gegenseitig sowie die Menschen am Straßenrand überraschten. Und sie waren sich in dieser Vielfalt zugleich so einig, als wäre alles abgesprochen: einig für gleiche Rechte überall, gegen Besatzungs- und Grenzregimes überall, gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in all ihren Formen, überall:

„Palestinians are not numbers“

„We know that our freedom is uncomplete without the freedom of Palestine“ Nelson Mandela

„The only settler colonialism in the Middle East“ (in Anspielung auf „The only democracy …“ und gestaltet als „brand“, anspielend auf die Hasbara-Kampgane Brand Israel)

„Free Palestine from German guilt“

„The Israeli government doesn’t represent me“ #Free Palestine ‚ Free Gaza (hochgehalten von einem Israeli)

„Why do German media support ethnic cleansing?“

„It’s not a conflict – it’s apartheid“

„Europe’s biggest exports: Racism, Facism, Colonialism“

„This Jew is against ethnic cleansing“

„Silencio es criminal – solidaridad con Palestina“

„Dear Germany, stop arming Israel“

„Jews for Palestine“ (auch auf Arabisch und illustriert mit einer Figur, die sich die Kufiya umbindet – Anspielung auf ein ähnlich gestaltetes Plakat der syrischen Revolution)

„South Asians in solidarity with Palestinans“

„Israel, you can’t pinkwash genocide“

„How many more times is this o.k.?“

„Don’t stand with Israel, stand with justice

„From Kashmeer to Palestine, occupation is a crime“

„We can’t breathe since 1948“

„Feminists for Palestine“

„SOS Gaza – SOS Columbien, Break the silence #Gaza under attack“

„Gegen Angriffe auf Synagogen oder Moscheen in Berlin oder Gaza“ (Banner der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost)

„Ireland and Palestine – ONE struggle“

„Antisemitism has no right to exist – Palestinians do“

„Defund Apartheid“

„Der reißende Fluss wird gewalttätig genannt, aber das Flussbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig, Bert Brecht“

„Palestinian liberation and Jewish safety go hand in hand“

„‘Both sides‘“ – stop equalizing the oppressor and the oppressed“

„Free Palestine – save Yemen“

Darüber also schwiegen sich nach jenem 15. Mai vor zwei Jahren Medien, Polizei, die Stadt hartnäckig aus. Diese Aussagen wollten und wollen sie nicht zur Kenntnis nehmen. Von dieser Message in ihren vielfältigen individuellen Äußerungsformen hat also eine breitere Öffentlichkeit nichts erfahren dürfen. Diese Stimmen wurden 2021 „überhört“ und 2022 und 2023 durch Verbote des Nakba-Gedenkens von vornherein erstickt.

Es waren die Stimmen eines „Wir“ von Palästinenser*innen, Israelis, Lateinamerikaner*innen, Westasiat*innen, insbesondere Syrer*innen, Südostasiat*innen, Europäer*innen, darunter Jüdinnen/Juden ... mit unterschiedlichen Hintergründen, religiösen und anderen Einstellungen, in der Mehrzahl POC … sowie einigen wenigen „Bio-Deutschen“ und kaum Menschen über 40. Das Englische dominierte, die gemeinsame Sprache der jungen Generation von Berliner*innen unterschiedlicher Herkunft. Gerade in Neukölln, wo auch viele Palästinenser*innen leben, ist diese internationale Community, einschließlich Israelis, die der Politik ihrer Regierungen gründlich überdrüssig sind, sehr präsent.

Vielen Berliner Palästinenser*innen, darunter auch offensichtlich muslimische Familien, die an der Demonstration teilnahmen, waren überrascht – und glücklich – diese breite, vielfältige und herzliche Solidarität, insbesondere auch von Israelis und Jüdinnen*Juden, auf den Straßen ihrer Kieze zu erleben. Ich sah sie Fotos machen, und in ihren Blicken, dass sich etwas löste: das omnipräsente, nicht nur sie, sondern auch Jüdinnen*Juden entmenschlichende deutsch-identitäre Narrativ.

Die Message jener Demonstration vom 15. Mai 2021 war den deutschen Medien wohl zu kompliziert. Zu neu, um daraus routiniert den besorgten bis gehässigen Kommentar für die Morgenausgabe zusammenzubasteln. Die Polizei, an diesem Tag ungewöhnlich gnädig, war’s vielleicht, weil überfordert von den zumeist auf Englisch formulierten Aussagen, die so wenig in die Schemata passten, wie sie den Ordnungskräften von der Politik vorgegeben werden. Ein wildes Durcheinander …

Was ist, über zwei Jahre danach, aus den selbstgebastelten Pappschildern geworden, aus denen sich das wilde Durcheinander zusammensetzte? Die eine (es waren mehr Frauen als Männer) oder der andere hat ihres oder seins vielleicht zu Hause an die Wand gehängt und erinnert sich jedes Mal, wenn der Blick darauf fällt, wehmütig an jenen 15. Mai 2021. Hatte es möglicherweise aufbewahrt, um es im nächsten Jahr erneut raus auf die Berliner Straßen zu tragen. Doch die Pappschilder zum Nakba-Gedenken konnten 2022 nicht wieder zum Einsatz kommen – jegliches öffentliche Gedenken wurde verboten.

Dennoch verabredeten sich hier und da kleine Gruppen ohne Schilder, lediglich mit Kufiyas angetan. Ein gewaltiges Polizeiaufgebot machte Jagd auf sie, wobei insbesondere „arabisch aussehende“ Menschen, ohne dass sie den geringsten Anlass dafür gegeben hätten, unter Anwendung von Gewalt festgenommen wurden. Einer von ihnen wurde von 12 Polizisten umzingelt und abgeführt, wobei sie ihn derart verletzten, dass er im Krankenhaus behandelt werden musste.

Manche der Pappschilder von „damals“, vom bislang letzten Berliner Nakba-Gedenken, waren am Ende so durchnässt gewesen, dass man sie nicht aufbewahrt hatte. Für Berliner Palästinenser*innen, gemeinsam mit Neu-Berliner*innen aus überallher, auch aus Israel, würde es leider genügend Anlass geben, mit neuen Schildern rauszugehen, die immer neuen Verbrechen der nicht enden wollenden Nakba zu beklagen und die Zusammenhänge zu anderen Katastrophen anderswo auf der Welt aufleuchten zu lassen.

Doch dass sich dieses vielstimmige, friedliche Wir erneut auf Berliner Straßen und Plätzen äußert, wurde auch 2023 vereitelt. Ist es von Staats wegen derart bedenklich, wenn die im deutsch-identitären Diskurs gegeneinander in Stellung Gebrachten ihr Gemeinsames entdecken und offenbar nicht mehr davon abzubringen sind?

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