Opponieren, wie nur die Kreatur es kann

Bühne Was für ein intensive Bearbeitung! Mario Holetzecks „Woyzeck & Marie“ oder warum es sich lohnt für ein Theaterstück extra nach Cottbus zu fahren

Clowns mit roten Pappnasen und ulkigen Kostümen tänzeln zu Beginn über die Bühne. Musik spielt. Ein bejungter Vogel steigt anmutig hoch. Riesenbälle springen und schweben. Die Clowns stoßen sie ins Parkett. Welch heiteres Treiben. Woyzeck ist hier ein anderer. Mario Holetzeck und seine Truppe erfinden ihn und sein Umfeld neu. Woyzeck Marie heißt ihr Spiel. Der abgerissene entlassene Soldat kommt als „dummer August“ daher. Der kann blitzartig aus seiner Rolle springen und die merkwürdigsten Züge annehmen. Kann lachen, schreien, beben vor Angst, zärtlich sein, schimpfen und lieben, das Messer ziehen und höchst fürsorglich gegenüber seinem Sohn Christian (Julian Böhm) sein.

Der junge Oliver Seidel gibt die Rolle grandios. Sein Woyzeck kann opponieren, wie nur die Gedrücktesten es können. Der liebt seine bisweilen ungezügelte Marie, wie sie kein anderer lieben könnte, immer bange, er könne sie verlieren. Sein Woyzeck hasst die Hierarchie, weil sie ihn in die Knie zwingt, in den Käfig sperrt wie ein wildes Tier. Ein Mann, traurig wie die Pappnasen, wenn sie ihre ulkig-rührseligen Tragödien erzählen, wütend, wenn es ans Eingemachte geht, nachdenklich, wenn ihn das Leid dazu nötigt. Holetzeck steckt die Personage des Woyzeck, statt unter die Fuchtel des Hauptmanns wie bei Büchner, unter die Zuchtpeitsche des Zirkusdirektors. Marie wird Ballerina. Der Doktor, parteiischer medizinischer Gutachter, taucht in die Rolle des Zauberers. Aus dem Tambourmajor wird der Dompteur. Margreth, Tochter des Zirkusdirektors, bläht sich auf zur stärksten Frau der Welt. Blendende Idee, dieser Figurentausch, der einhergeht mit einer fast permanenten Musikalisierung der Vorgänge. Zwei Musiker (Dietrich Petzold, Frank Petzold) flankieren die Szenerie und steuern vielfarbige Stil- und Klangideen bei. All das ermöglicht eine Revue der Umschläge von Humor zu Bosheit, von heiterem Spiel zu bitterem Ernst, von Tango auf der Violine zu singendem Becken, von Terror zu Gegenterror.

Heftig fegten die Winde der Epoche, als Büchner den Hessischen Landboten und die Woyzeck-Fragmente schrieb. Heute toben sie sich wie Windhosen flächendeckend aus. Mario Holetzeck ist von dem Gedanken angesteckt. Er will und macht veränderndes Theater. Explosivkräfte schlummern unter Woyzecks Haut. Diese Kreatur will nichts weiter, als ein bisschen leben – ohne Gram, ohne Höllenängste in der Stirn und Fesseln am Leib. Das gelingt nicht. Das Umfeld ist zu mies. Die Verhältnisse so grausam wie nirgendwo.

Adriane Pabsts eigensinnige, energische, carmeneske Ballerina bereitet die radikale Wendung mit vor. Sie kehrt zuerst den Spieß um und wird selbst zur Dompteurin, indem sie ihren Fuß auf die Körper derer setzt, die ihre Schönheit liebkosten. Die kühnste Wendung der Inszenierung: Der Protagonist tötet seine allzu oft betrugsbereite Geliebte Marie nicht. Er lässt sie gehen und sich besinnen. Stattdessen rammt er das Messer seinen Unterdrückern in den Leib: dem ekelhaften Zirkusdirektor (Berndt Stichler), dem schleimigen Zauberer (Gunnar Golkowski), dem geifernd-geilen Dompteur (Michael Becker). Dass sie allesamt Marie an die Wäsche gingen, ist sekundär. Holetzeck demonstriert radikal die Ohnmacht der Kreatur. Vielleicht hilft nur eins: dem Terror der Furoren mit Gegenterror zu antworten. Die Verhältnisse, sie gehören umgestürzt. Nach Mario Holetzecks Lear ist Woyzeck Marie eine weitere fantastische Leistung des Cottbuser Ensembles.

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