Lauschangriff 7/03

Kolumne In Michael Endes Geschichten von Lummerland, der Insel mit sieben Bergen, einem Fotoatelier und Lucas, dem Lokomotivführer, gibt es auch Herrn ...

In Michael Endes Geschichten von Lummerland, der Insel mit sieben Bergen, einem Fotoatelier und Lucas, dem Lokomotivführer, gibt es auch Herrn Turtur, den bemerkenswerten Scheinriesen. Er wirkt riesig nur aus der Ferne und wird immer kleiner, je näher man ihm kommt. Mit dem Komponisten Frédéric Chopin ist es genau umgekehrt. Er ist ein Scheinzwerg, vielen Leuten, die nicht so genau hinhören und obendrein vielleicht einem schlechten Pianisten, erscheint seine Kunst wie Geklimper. Das aufwendigste (und lauteste), das er komponierte, waren zwei Klavierkonzerte, keine Sinfonie, schon gar keine Oper, fast ausschließlich Musik fürs Klavier, meistens für ein einziges - aber je mehr man sich Chopin nähert und je genauer man ihm zuhört, desto gigantischer nimmt er sich aus.

Es ist als habe er, 1810 geboren, mit seiner Vorliebe für Miniaturen dem beginnenden Zeitalter widersprechen wollen, das sich in Rossinis maschinenhafter Fröhlichkeit ankündigte, um sich dann ein Jahrhundert lang bis in Wagners und Mahlers Gigabesetzungen zu versteigen. Chopins Freund Heine hat es vorgezogen, sich bitter lustig zu machen übers »Juste Milieu«, jene - wie gut wir sie inzwischen selbst kennen! - an Idealen bettelarme Diktatur des Geldsacks. Chopin geißelte sie auf seine Weise; indem er sie - sehr genau, sehr poetisch und sehr leise - beschrieb und selbst sprechen ließ. Zum Tanz am Abgrund seiner Zeit fielen ihm vor allem Tänze ein. Und wo andere aus ihrem Herzen keine Mördergrube machen und es ausschütten, dem Rest der Welt mitten auf den Kopf, verbarg Chopin sein Leid in Musik, scheinbar hingeplaudert wie anmutige Konversation in den Salons, die für den polnischen Franzosen, den französischen Polen Chopin bevorzugter Fluchtort waren.

Man muss exorbitant gut Klavier spielen, um Chopins Partituren zu meistern, denn ihr Urheber komponierte fast ausschließlich für den eigenen Konzertbedarf und konnte sich technisch das Schwerste zumuten. Dass dies freilich nicht reicht, auch wenn zur Perfektion Eleganz und Leichtigkeit kommen, zeigt die neueste Chopin-CD des US-Amerikaners Murray Perahia (Sony Classical SK 61885) mit dem Allerschwersten, das Chopin geschrieben hat, die Etüden Opus 10 und Opus 25. Perahias Chopin liegt allerdings im allgegenwärtigen Licht der Makellosigkeit; kein Geheimnis, keine Poesie. Aber gerade das wollte Chopin. Er hatte eigens dafür einen Fingeranschlag entwickelt, der vieles nur andeutete; er bot an, der Hörer sollte mitarbeiten, eine Sache der Intimität.

Wie bei kaum einem anderen Komponisten gibt es für Chopin Spezialisten. Sie sind freilich alle tot. Im Zeitalter der Tonkonserve ist das kein Problem. Wo heutige Aufnahmen - durchaus nicht nur aus Gründen der Aufnahmetechnik - brillant und scharf wie Werbefotos wirken, entwickelten die alten Herren den Charme des Ungefähren, wie Zufälligen und weltenweit Intimen, gepaart mit somnambul virtuoser Musizierlust, was Chopins formvollendeter Morbidität sehr entgegenkam. Die Chopin-Aufnahmen des Polen Arthur Rubinstein hat RCA/BMG in einer sorgfältig und schön edierten Großbox heraus gebracht, deren CDs auch einzeln erhältlich sind; die des Russen Vladimir Horowitz gibt es bei Sony Classical. Das, ungleich kleinere, Chopin-Vermächtnis des Franzosen Alfred Cortot bietet EMI an. Cortos Paradestück, Chopins musikalische Kleinodiensammlung Préludes op. 28 mit ihren Hochzeiten des Trübsinns und enormen Ausblicken in die Harmonik der Moderne kann man allerdings auch ganz anders, abgründig verfeinert, und nicht minder eindrucksvoll spielen; die 1964 geborene Polin Eva Kupiec hat es vorgemacht (KOCH Classics/EMI 3-6562-2).

Von den Études op. 25 gibt es eine Aufnahme des Russen Grigory Sokolov, die, bei aller Virtuosität und mit wunderbarer Balance von Melodie und Begleitung, chopinsche Aura pur bietet (mit Trauermarsch-Sonate, Opus 11/Harmonia Mundi OPS 30-80).

Und natürlich gibt es auch heute Großmeister, die, kaum dem Sowjetwunderknaben-Alter entwachsen, einen technisch hinreißenden und zugleich zauberhaft vergrübelten Chopin spielen. So Jevgenij Kissin, der bei seinem Chopin-Recital von 1993 in der New Yorker Carnegie Hall offenbar gleich mehrere Sternstunden hatte (2 CDs BMG 74321 25807 2).

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