In der letzten Ausgabe des Freitag erschien auf der ersten Seite ein Leitartikel von Christian Füller über die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium. Darin kritisiert er das G8-Modell und betont, dass das G9-Modell endlich die Chance auf mehr Bildung für alle Kinder biete. Im Kern kritisiere ich Füllers Text nicht, ganz im Gegenteil, ich teile seine Meinung. Ich habe lediglich ein Problem mit dem öffentlichen Diskurs über das Thema. Denn Haupt- und Realschüler sind in der Debatte ausgeschlossen. Sie sind die eigentlichen Verlierer des Bildungssystems.
Im Jahr 2003 wurde das Modell des verkürzten Gymnasiums erstmals in Bayern eingeführt, weitere Bundesländer folgten. Über viele Jahren hinweg sind Debatten über G8 und G9 geführt worden. Dabei vergaß man jedoch zwei wichtige Aspekte. Zum einen stieg die Anzahl von Abiturienten. Zum anderen die Zahl von nichtbesetzten Ausbildungsplätzen.
Warum das problematisch ist, weiß ich aus eigener Erfahrung. Bis ich mein Soziologiestudium beginnen konnte, kämpfte ich mich mit einem mittelmäßigem Realschulabschluss zu einer kaufmännischen Ausbildung im elterlichen Betrieb zur Fachhochschulreife und dann schließlich auf die Universität. Ich habe auf einer Gesamtschule erlebt, welchen Stellenwert Haupt- und Realschüler gegenüber Gymnasiasten besitzen.
Etwa, als die Schule ein Austauschprogramm nach England plante. Hauptschüler waren von vornherein davon ausgeschlossen. Realschüler benötigten mindestens die Note "gut". Gymnasiasten hingegen mussten keinerlei Anforderungen erfüllen, um teilnehmen zu können. Das ist unfair und kontraproduktiv. Denn grundlegende Englischkenntnisse gehören inzwischen zum Standard – beruflich wie privat. Warum sollten es die einen nötiger haben als die anderen? Abgesehen davon, dass nicht jeder Gymnasiast automatisch motivierter, klüger oder geeigneter für einen Austausch ist. Mit solchen Entscheidungen nimmt man den Haupt- und Realschülern den Mut und den Willen, mehr erreichen zu wollen – und fördert das Klassendenken.
Akademisierungswahn in Deutschland
Vordergründig betrachtet, scheint es eine gute Nachricht zu sein, dass es heute mehr Abiturienten gibt als noch vor 20 Jahren. Zwar ist die Anzahl von Arbeiter- und Migrantenkindern, die das Abitur erlangen, nach wie vor weitaus geringer als die Anzahl von Akademikerkindern, dennoch ist der Zugang zum Gymnasium für die beiden Gruppen leichter geworden. Das Problem wird erst auf dem zweiten Blick sichtbar. Die Abiturquote ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Christian Füller schreibt, dass die Quote heute bei 45 Prozent läge und in vielen Städten rund die Hälfte aller Schüler eine Hochschulreife erlangten.
In Deutschland herrscht geradezu ein „Akademisierungswahn“. Das System des Neoliberalismus hat sich auf die schulische Ebene ausgeweitet. Dass wissen auch die Eltern – auf ein Gymnasium zu kommen, hat einen wichtigen Stellenwert. In den Köpfen herrscht der Gedanke, ohne Abitur und Studium könne man im Leben nichts mehr erreichen. Doch niemand scheint zu begreifen, welche dramatischen Auswirkungen die hohe Abiturquote hat: Die Anzahl der unbesetzten Ausbildungsplätze stieg in den Jahren 2009 bis 2013 von 17.300 auf 33.500. Die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge im Jahr 2013 sank um 20.500 (auf 509.000) im Vorjahresvergleich. Ein Grund dafür sind auch die gestiegenen Anforderungen der Unternehmen für einen Ausbildungsplatz.
Das Abitur ist kein Privileg mehr – es ist eine Minimalanforderung. Wer den Realschulabschluss erlangt, benötigt einen guten bis sehr guten Notendurchschnitt, um eine kaufmännische Lehre starten zu können. Und wer einen Hauptschulabschluss macht, hat fast keine Chancen mehr, einen Ausbildungsplatz zu erhalten. Der Stellenwert eines Hauptschul- und Realschulabschluss sinkt dadurch immer mehr.
Klassenkampf im deutschen Bildungssystem
Bis heute spüre ich diese Ungerechtigkeit. Jedes Jahr werden über diverse Radiosender die Daumen für die anstehenden schriftlichen Abiturprüfungen gedrückt. Wenn jedoch die schriftlichen Prüfungen für die Haupt- und Realschüler stattfinden, ist aus den Lautsprecherboxen nichts zu hören. Auch die festlichen Abibälle verglichen mit den Zeugnisübergaben von Realschülern sind für mich ein Inbegriff für diese unfaire Sichtweise. Es fühlt sich an wie ein Klassenkampf, ausgetragen im deutschen Bildungssystem. Die Öffentlichkeit interessiert sich nur für die „Probleme“ der Gymnasiasten. Man sorgt sich um privilegierte Akademikerkinder, die durch G8 mehr als sonst lernen müssen, um ihr Abitur zu erlangen. Das gleiche gilt für die Probleme auf den Universitäten durch den Bologna-Murks.
Wir benötigen in Deutschland aber dringend eine öffentliche Debatte über die Haupt- und Realschüler, die unter den enormen Anforderungen und dem Akademisierungswahn leiden. Ich finde es dramatisch, dass alle politischen Parteien proklamieren: “Hochschulstudium für alle!“ Dies wird dazu führen, dass die einzigartige Qualität des deutschen Ausbildungssystems beschädigt oder zerstört wird, nämlich die Herausbildung einer exzellenten Facharbeiterschaft.
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