Diese Moral-Seite macht einen Killer aus mir

Die Ratgeberin Eine Webseite macht unserer Kolumnistin klar: Über ethische Fragen sollten besser andere urteilen
Ausgabe 11/2019

Stellen Sie sich vor, liebe Leser: Sie sind Gott und sehen, wie vier Hunde und drei Katzen bei Grün über die Straße laufen. Von links nähert sich den braven Haustieren ein selbstfahrendes Auto, in dem drei Obdachlose, ein Junge und eine weibliche Führungskraft sitzen. Gerade denken Sie noch ganz gerührt: Alles meine Schöpfung! Toll!

Da kommt ihr Gegenspieler, der Satan persönlich, ins Spiel und lässt die Bremsen des selbstfahrenden Autos versagen. Nun müssen Sie – als Gott – entscheiden, wer dran glauben muss. Ich als notorisch zu Fuß gehender Gott finde das einfach: Das Auto soll ausweichen und mit den vier Insassen gegen eine Betonwand knallen, denn vom Auto ging ja die Gefahr erst aus. Zack, schnell geklickt. Weiter, nächster Gotteseinsatz: Fünf Babys in ferngesteuerten Buggys rumpeln bei Rot über die Ampel, wieder kommt ein marodes selbstfahrendes Auto an, dieses Mal sitzen drei Hunde, zwei Mäuse und ein Athlet drin. Athlet? Egal! Weg mit dem Athleten! Aber jetzt kommt’s: Über einen Zebrastreifen schlurfen ein Krimineller und zwei füllige Frauen, auf der Gegenfahrbahn genau dasselbe Bild: zwei füllige Frauen und ein Krimineller auf der Fahrbahn. Welche Gruppe würden Sie eliminieren? Dass da auf jeden Fall ein Krimineller davonkommt, gefällt mir gar nicht!

Die Website moralmachine.mit.edu, auf der über ethisch vertretbare Algorithmen für selbstfahrende Autos abgestimmt wird, hat den Killerinstinkt in mir geweckt. Liegt nicht an mir, bilde ich mir ein, sondern daran, dass man nicht klickt, wer gerettet, sondern wer getötet werden soll. Schon bald beginne ich eigene Ideen zu entwickeln, etwa: Das selbstfahrende Auto erfährt, dass zwei Straßen weiter sechs Kriminelle bei Rot über die Straße gehen. Darf es einen entsprechenden Umweg fahren, um diese – bei eventuell plötzlichem Bremsausfall – über den Haufen zu fahren, auch wenn damit unnötig Benzin verbraucht wird und durch den dadurch beschleunigten Klimawandel anderswo fünf Schulkinder sterben? Alles totaler Nonsense, sagen Sie, liebe Leser. Stimmt und stimmt auch wieder nicht.

Fakt ist: Die Autoindustrie braucht dringend unseren Ratschlag – nachdem jetzt sogar die einstigen Erzfeinde Daimler und BMW gemeinsam das autonome Fahren voranbringen wollen. Dieses würde – so heißt es – die Zahl der Verkehrstoten um 90 Prozent senken. Dennoch müsste für die verbleibenden zehn Prozent geregelt werden, wer im Zweifelsfall ins Gras beißen soll. Und da geht’s los mit der Tragik der algorithmischen Allmende, erklärt Iyad Rahwan, Professor am MIT Media Lab und einer der Erfinder der moralmachine-Website. Und die geht so: Laut seiner Studie sind die meisten Leute dafür, dass das selbstfahrende Auto sich immer für den geringsten Schaden entscheidet. Allerdings: Kaufen würden sie nur ein Auto, dem seine Insassen stets wichtiger sind als alles andere. Und ab hier werde es noch verzwickter. Denn würden sich jetzt rebellische Fußgänger (wie mich zum Beispiel) zusammenrotten, um den Verkauf solcher leicht fußgängerfeindlicher Autos gesetzlich zu verbieten, könnte das verhindern, dass sich das autonome Fahren überhaupt durchsetzt. Damit wären diese so harmlos tuenden Fußgänger Schuld am Tod von jährlich fast 3000 Menschen – allein in Deutschland. Iyad Rahwan sagt, er kenne die Lösung dieses Rätsels nicht. Aber mal ehrlich: Wieso sollen derartige Massenmörder wie ich auch noch geschützt werden? Was wäre denn das für eine Moral?

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