Digitale Hausarztpraxis: Vision oder bald Wirklichkeit?

Gesundheitssystem Eine Diskussion zur Suche nach dem "Dreiklang von Datensicherheit, Datenschutz und Benutzerfreundlichkeit" für die medizinische Grundversorgung von morgen: Dringender Nachholbedarf im europäischen Vergleich.

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Schon heute gibt es Probleme, Nachfolger*innen für Hausarztpraxen zu finden, bis 2035 könnten rund 11.000 Hausarztstellen unbesetzt sein. Viele Ärzt*innen schieben ihren Ruhestand weiter hinaus als geplant. Gleichzeitig wird die Bevölkerung älter und weniger mobil, chronische Erkrankungen nehmen zu. Mehr Digitalisierung im Gesundheitssystem könne hier für einen Ausgleich sorgen. „Wir werden Wege finden müssen, wie ein Arzt doppelt so viele Patienten betreuen kann wie heute“, erklärte Vlad Lata von dem medizinischen Startup „Avi Medical“ bei der Diskussion im Young and Restless Breakfastclub „Praxis 2030 – Versorgung trifft Digitalisierung“ in der Digital Lounge von Telefónica in Berlin.

Knackpunkt dabei ist Zeitersparnis und Aufwandsvermeidung: durch die Elektronische Patientenakte, die Ärzten mehr Informationen von mitbehandelnden Kolleg*innen bietet, durch Telemedizin, die Einbeziehung von Gesundheitsapps und elektronische Rezepte. Und zwar für beide Seiten: Telemonitoring-Termine mit dem Arzt oder der Ärztin können für weniger mobile Patient*innen und ihre Familien eine große Entlastung sein. Weniger Menschen im Wartezimmer entlastet Praxisteams wie Kranke. Die ideale Praxis im Jahr 2030 ist für Sebastian Zilch, Unterabteilungsleiter „gematik, Telematikinfrastruktur, eHealth“ im Bundesministerium für Gesundheit, eine Praxis, „in der die Digitalisierung gar nicht sichtbar ist, sondern selbstverständlich integriert“.

Für Prof. Dr. Sylvia Thun, Direktorin der Core Facility Digitale Medizin und Interoperabilität am Berlin Institute of Health in der Charité (BIH), und Vorsitzende des Spitzenverbands IT-Standards im Gesundheitswesen (SITiG), sind solche Zustände in anderen Ländern wie Österreich, Dänemark oder den Niederlanden längst umgesetzt. Das liege nicht nur am in Deutschland so hoch gehaltenen Datenschutz, denn die EU-Regeln zum Datenschutz seien in den Ländern der Union gleich. Sie sieht große Beharrungskräfte am Werk. Es müssten auch mal Programme eingesetzt werden, die noch nicht zu 100 Prozent ausgeklügelt seien und erst durch den Praxistest weiterentwickelt werden könnten. Die Kommunikation zwischen Ärzt*innen und Patient*innen müsse digitaler, die medizinischen Fachkräfte von Verwaltungsaufwand befreit werden, damit das Gesundheitssystem wieder zu einem attraktiven Arbeitsplatz wird.

„In der Politik ziehen wir da an einem Strang“, meinte der Bundestagsabgeordnete Erwin Rüddel von der CDU, die Blockadehaltung verortet er in der Selbstverwaltung des Systems. Diese müsse sich dem dynamischen Prozess anpassen. Dabei sollten auch niedrigschwellige Apps zur Gesundheitsbeobachtung einbezogen werden, von deren Daten der behandelnde Arzt profitieren könne. Er beklagte den ausgeprägten Blick auf Risiken statt Chancen in diesem Land. Die Datenschutzbeauftragten müssten „mit einer Stimme sprechen“ und nicht 17 verschiedene Maßstäbe anlegen.

Den „Dreiklang von Datensicherheit, Datenschutz und Benutzerfreundlichkeit“ mahnte sein FDP-Kollege im Gesundheitsausschuss, Maximilian Funke-Kaiser, an. Er bedauerte, dass Gesundheitsapps wie ADA zwar in Deutschland entwickelt würden, hier aber viel weniger zum Einsatz im Gesundheitssystem kommen als in anderen Ländern. Datenportabilität sei ein weiteres wichtiges Thema, um Doppelaufwand zu verhindern.

Die Benutzerfreundlichkeit sah Vlad Lata von „Avi Medical“ beim elektronischen Rezept noch nicht als gegeben an. Die Ausstellung sei zu zeitaufwändig, da ließe sich noch einiges vereinfachen. Das Startup übernimmt Praxen von Ärzt*innen, die in den Ruhestand gehen, und baut diese dann digital aus. Dienstleistungen möglichst einfach zu machen für das Praxisteam wie für die Kranken sei das Ziel. Das schaffe eine positive Arbeitsatmosphäre, von der auch die Patient*innen letztlich profitieren.

Einig über eine dringende Beschleunigung der Digitalisierung im Gesundheitssystem waren sich alle Diskutant*innen, resümierte Moderatorin Alice Greschkow. Den größten Optimismus strahlte Zilch vom Gesundheitsministerium aus. Die seit September konzipierte Digitalisierungsstrategie werde Anfang 2023 vorgestellt. Im kommenden Jahr solle auch die elektronische Patientenakte so in die Gesundheitsversorgung integriert werden, „dass sie echten Mehrwert schafft“. Zudem sei in der EU ein „Europäischer Raum für Gesundheitsdaten“ in Vorbereitung, der zu mehr Harmonisierung der unterschiedlichen Gesundheitssysteme, zu besserer Vorsorge und mehr Forschung dienen solle.

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Geschrieben von

Susanne Stracke-Neumann

Susanne Stracke-Neumann ist freie Journalistin. Für die meko factory berichtet sie über Veranstaltungen.

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