Anfang September verkaufte Mohammed Khaldoon eine Kette, um die er seine Schwester gebeten hatte, lieh sich von Freunden noch etwas Geld und stieg zusammen mit 49 Menschen in ein klappriges Boot, das ihn nach Zypern bringen sollte. „Er ging, ohne sich zu verabschieden“, erzählt Fatima Mohammed, die ihm die Kette gegeben hatte. „Das Boot war klein. Der Besitzer sagte, es werde nur für eine kurze Strecke gebraucht, dann würden sie auf ein richtiges Schiff umsteigen. Er nahm ihnen ihre Flaschen mit Wasser und die Taschen weg, er ließ sie mit nichts zurück.“
Kurz darauf ging die Reise so zu Ende wie so viele missglückte Überfahrten zuvor, bei denen vor der libyschen oder syrischen Küste Tausende verzweifelte Flüchtlinge im Mittelmeer ertranken. Bisher galt der Libanon als sicherer Hafen, in dem sich die Menschen nicht gezwungen sahen, übers Meer zu flüchten. Mittlerweile hat sich der Niedergang des Landes derart beschleunigt, dass viele nur noch einen Weg finden wollen, um den Libanon zu verlassen.
Keine Hoffnung auf Wandel
Nichts versinnbildlicht dessen desaströsen Zustand mehr als die Explosion am 4. August im Hafen von Beirut. 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat, die dort unerklärlicherweise gelagert wurden, fingen Feuer und explodierten. Es gab 200 Tote, Tausende von Verletzten, mindestens 70.000 beschädigte Gebäude. Es ging gar nicht anders – die Zerstörung des Hafens musste den Zorn eines beleidigten und erschöpften Volkes entzünden. „Glauben Sie mir, erhielte ich ein Visum für irgendein Land auf dieser Welt, wäre ich in einer Sekunde raus“, versichert der 36-jährige Hussein Termos aus der Stadt Marjayoun im Süden. Er lebt vorübergehend im Beiruter Vorort Dahijeh. „Alles dreht sich nur noch darum, wie man das Nötigste bekommt: Lebensmittel, Wasser, Zigaretten.“
„Wegen der Inflation und der Arbeitslosigkeit gibt es keine Hoffnung auf einen Wandel zum Guten“, sagt der Druse und Musiker Rabiah Khaireddine. „Die Wochen seit der Explosion haben das gezeigt. Alle, die ich kenne, wollen weg.“ Immer wieder kam es in den zurückliegenden Jahren zu Protestausbrüchen wie im Oktober 2019, als die Regierung Dinge besteuern wollte, die den Libanesen am Herzen liegen. Unter anderem sollte es eine Gebühr von umgerechnet fünf Euro für Whatsapp geben. Die Abgaben sollten helfen, die Folgen einer latenten Misswirtschaft aufzufangen, als mit dem Ausfall von Anleihezahlungen ein Zusammenbruch des maroden Finanzsystems drohte. Alle religiösen Gruppen schien ein Bürgergeist zu beseelen, den es bis dahin so nicht gegeben hatte. Ein übergreifender Patriotismus erfüllte die Gemüter und bestärkte darin, gemeinsam über das eigene Schicksal zu bestimmen. Im verarmten Norden war es zu Warteschlangen gekommen, als erstmals seit 1990 – seinerzeit endete ein 15 Jahre dauernder Bürgerkrieg – Libanesen wieder anstanden, um eine Grundnahrungsmittelhilfe zu erhalten. Dann jedoch setzte die für einen Ex-Bürgerkriegsstaat und seine Machthaber typische Lähmung wieder ein. Seither haben sich die Preise für lebensnotwendige Artikel teilweise vervierfacht. Und sie werden weiter steigen, wenn die Regierungssubventionen für Öl, Mehl und Medikamente, die aus letzten Reserven der Zentralbank stammen, demnächst auslaufen. Das geschieht in einem Land, in dem zwei Drittel der Menschen unter die Armutsgrenze zu fallen drohen, was selbst die dunkelsten Tage eines Bürgerkriegs in den Schatten stellt, der die Ökonomie ruinierte und 115.000 Menschen das Leben kostete. „Zumindest wussten wir damals, wer der Feind war“, meint Nabil Haddad, der in jener Zeit gekämpft hat und heute in Beirut eine Bäckerei betreibt. „Es gab Essen auf dem Tisch und Geld auf den Banken. So seltsam es klingt: Wir konnten leben, weil wir wussten, es würde eines Tages vorbei sein. Das ist diesmal anders.“
Macrons Angebot
Für viele Libanesen war es nicht das Schlimmste, zu erfahren, wie der Wert ihrer Währung zusammenbrach, dass ihre Ersparnisse durch den maroden Bankensektor gefährdet sind oder wie durch eine kriminelle Vernachlässigung des Hafens ein Stadtviertel zerstört wurde. „Es würde für alles Lösungen geben, aber die Politiker sind zu selbstsüchtig und zu sehr von äußeren Interessen beherrscht, um sie zu ergreifen“, ereifert sich Sara Idriss, eine Lehrerin aus Sidon im Süden. „Ich kann kaum glauben, dass bisher keine schweren Unruhen ausgebrochen sind. Und ich kann ebenso wenig fassen, dass wir nicht offener über Interessen sprechen, die verhindern, dass wir allein erfolgreich sind.“
Im Viertel Gemmayze in der Nähe des Beiruter Hafens holt Diah Suleiman Farbe ab, um ihre Wohnung zu renovieren, die durch fliegende Glassplitter Schaden nahm. „Frankreichs Präsident kam hierher, um zu helfen. Er bot Geld an, wenn wir es ihm leicht machen würden, das seinen Steuerzahlern gegenüber zu rechtfertigen. Wir hätten nichts weiter tun müssen, als uns wie ein seriöses Land zu verhalten, um Macrons Angebot anzunehmen.“
Nach dem Ersten Weltkrieg hatte Frankreich ein Mandat des Völkerbundes für den Libanon und nahm Einfluss auf den entstehenden Staat, der 1943 seine Unabhängigkeit erklärte. Das sorgte für bleibendes Interesse, sodass Emmanuel Macron nach dem Inferno im Hafen zweimal nach Beirut kam und Stadtteile besuchte, in die sich kein libanesischer Politiker mehr traute. Er beschwor die Führungsschicht, nicht länger sektiererische Eigeninteressen in den Vordergrund zu stellen, die dazu führten, dass Ämter nach Quoten vergeben und Staatsgelder als Schmiermittel einer Vetternwirtschaft missbraucht wurden. Das Gleiche hatten schon andere angemahnt, die den Kollaps kommen sahen und auf taube Ohren gestoßen waren.
Mit dem Ende des Bürgerkriegs 1990 bestimmte das im saudischen Taif geschlossene Friedensabkommen, dass die libanesischen Schiiten stets Anspruch auf das Amt des Parlamentschefs hatten, die Maroniten auf das des Präsidenten und die Sunniten auf den Posten des Premierministers. Alle drei Mandate wurden zu Komponenten einer Oligarchie, die den Wiederaufbau nach 1990 dominierte und von regionalen Interessen beeinflusst war. Schließlich lag der Libanon im Spannungsfeld zwischen Israel und Syrien, und nicht nur das. Die Gewinne in dieser Erholungsphase gingen vorwiegend an Tycoons und ihre politischen Patrone, während die Unterschichtregionen auf Überweisungen von Arbeitsmigranten in Kanada, Frankreich oder in den Golfstaaten angewiesen blieben. Dennoch schien der Libanon nach außen hin für einige Jahre zu florieren, auch wenn stets von Neuem Unruhen aufflammten und die Hisbollah mit Unterstützung des Iran an Boden gewann.
Als 2016 Premier Saad Hariri einen Deal aushandelte, um den Bürgerkriegsgeneral Michel Aoun ins Präsidentenamt zu lotsen, kam das iranischem Einfluss zugute. Die Hisbollah und ihre Alliierten verfügten über 70 der 128 Parlamentssitze. „Sie waren entschlossen, sich keiner Protestbewegung zu beugen, egal, von wem die ausging“, erinnert sich ein Diplomat aus der Region. „Für sie war nicht entscheidend, was mit dem Land passierte, Hauptsache, sie landeten ganz oben.“
Als die USA zur Strategie des maximalen Drucks auf den Iran übergingen, geschah das auch in der Hoffnung, damit die Hisbollah im Libanon und in Syrien zu schwächen, wo sie eine Stütze von Präsident Baschar al-Assad ist. Inzwischen werden US-Sanktionen gegen Führer der Hisbollah und mit diesen verbundene Firmen verhängt. Kurz vor der US-Präsidentenwahl liegt dem Senat in Washington eine Resolution dafür vor, libanesische Regierungen nicht mehr anzuerkennen, solange die Hisbollah deren Koalitionär oder Partner ist.
Die derart Inkriminierten quittieren das mit Schulterzucken und erklären, sie würden sich vor der Inauguration des nächsten US-Präsidenten im Januar 2021 nicht von Washington beeinflussen lassen. Erst wenn man wisse, wer dann regiere, sei die Bildung einer neuen Regierung in Beirut als Ersatz für die nach der Hafenkatastrophe zurückgetretene sinnvoll.
Geht es um ein Kabinett, das erneut Saad Hariri führen will, der 2019 wegen der Oktoberproteste zurücktrat? Dies wäre ein Schlag für die Demonstranten. Einmal mehr blieben sie erfolglos mit ihrem Verlangen nach einem Sturz der politischen Klasse. Ein Kommentar aus Paris zu Hariris umstrittener Amtsrückkehr steht noch aus. Macron hatte als Bedingung für französischen Beistand eine regelmäßige Rotation der Minister gefordert, besonders bei wichtigen Ressorts wie dem der Finanzen. Allerdings war das, bevor Macron damit gescheitert war, auf Beirut Druck auszuüben. Blockiert hatte ihn die Hisbollah, die das Finanzministerium für sich reklamierte. „Sie musste zeigen, wer der Boss ist“, kommentiert ein Diplomat in Beirut. Macron reagierte darauf mit der Erklärung: „Die Hisbollah kann nicht gleichzeitig eine Armee gegen Israel sein, eine Miliz gegen Zivilisten in Syrien und eine respektable Partei im Libanon. Sie darf sich nicht für stärker halten, als sie ist.“
Im gesamten Libanon wächst die Furcht vor erneuten Spaltungen, ausgelöst durch militante Rivalität zwischen den religiösen Gruppierungen, den Rückzug auf die Kernidentität der Clans. Hussein Termos aus dem Beiruter Vorort Dahijeh rechnet damit, dass noch mehr Menschen zur Flucht übers Meer getrieben werden. „Ich verdiene eine Million Lira monatlich, weniger als 150 Dollar. Wie soll ich davon leben? Ich sehe täglich Leute, die sich nicht mehr genug zu essen kaufen können.“ Fatima Mohammed hofft weiter auf ein Lebenszeichen von ihrem Bruder. Überlebende aus seinem Fluchtboot haben ihr berichtet, dass man 14 Stunden gefahren sei, bis das Benzin ausging. „Irgendwann soll Mohammed ins Wasser gesprungen sein, um Hilfe zu holen, und gesagt haben: ‚Verzeiht mir. Wenn ich nicht wiederkomme, dann weil ich tot bin.‘“
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