Im Dezember 2010 zündete sich ein tunesischer Straßenhändler namens Mohammed Bouazizi selbst an. Sein Tod löste einen Flächenbrand des Aufruhrs aus, der sich von Nordafrika über den östlichen Mittelmeerraum bis zu den Golfstaaten ausbreitete. Am 11. Februar 2011 zwangen Massenproteste und der Wegfall der Unterstützung durch die USA den ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak zur Demission – nach drei Jahrzehnten an der Macht war ein Pharao gefallen. In Libyen brach bald darauf Chaos aus, die NATO intervenierte durch Luftoperationen gegen Muammar el-Gaddafi und brachte ihn zu Fall. In Syrien begann ein zermürbender Bürgerkrieg, der noch andauert. Nicht zuletzt durch diesen Konflikt angestachelt, präsentierte sich der Islamische Staat (IS) vorübergehend als regionale Kraft.
Heute hat der Arabische Frühling bekantlich viel von seiner Faszination verloren und wirkt wie eine Fata Morgana in der Wüstensonne. Mit Ausnahme von Tunesien ist der Nahe Osten nicht freier und demokratischer, sondern repressiver und autokratischer als zuvor. Ägypten wird in der Person des Präsidenten Abd al-Fattah as-Sisi wieder von einem Mann in Uniform regiert. Um es mit The Who zu sagen: Lernen Sie den neuen Boss kennen, er ist ganz genau wie der alte.
Von einem Versagen der Demokratie spricht David Kirkpatrick. Kirkpatrick leitete bis 2015 das Büro der New York Times in Kairo, in seinem brandneuen Buch Into the Hands of the Soldiers (In die Hände der Soldaten) beschreibt er nun auf fesselnde Art die Ereignisse in den ersten Wochen des Jahres 2011 auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Für ihn hat in Ägypten wie der Region überhaupt längst wieder die Restauration Fuß gefasst. Dem lässt sich nicht widersprechen, tatsächlich war der Militärputsch gegen Mohammed Mursi im Juli 2013, den Muslimbruder und ersten frei gewählten Staatschef Ägyptens, ein Jahr nach seinem Amtsantritt die Initialzündung für eine Rückkehr oder Bestätigung der regionalen Machteliten. Der Rausch des Aufruhrs und die Kraft, die von den Demonstranten ausging, haben für Kirkpatrick 2011 zu falschen Schlussfolgerungen geführt. „Sie waren alle so heroisch und inspirierend, dass wir uns davon natürlich vereinnahmen ließen, sogar das Weiße Haus wurde davon ergriffen.“ Damit indes hat er nur bedingt recht. Während Präsident Obama auf die jungen Ägypter setzte, war seine Regierung gespalten. Außenministerin Clinton gab sich vor den Medien überzeugt: „Unserer Einschätzung nach ist die Regierung Mubarak stabil.“ Vizepräsident Biden und Verteidigungsminister Gates drängten zur Vorsicht. Amerikas Verbündete in Europa waren überwältigt. Für sie war ein Ägypten ohne Mubarak kaum vorstellbar. Und für die Autokraten in den Golfstaaten stellte das Aufbegehren der Volksmassen eine Bedrohung dar, weil davon eine Kettenreaktion ausgehen konnte. Was alle unterschätzten, war der mit dem Arabischen Frühling an Zulauf gewinnende Dschihadismus, der freilich nicht aus dem Nichts kam.
Putsch als Schöpfungsakt
Als die USA in den 1980ern Afghanistans Mudschahedin gegen die Sowjetunion bewaffneten und damit die ersten Samen für al-Qaida legten, hatte Israel bereits ein Jahrzehnt wissentlich das Entstehen einer islamischen Bewegung ignoriert, weil es sich um Hamas handelte: ein gewaltbereiter Zweig der Muslimbruderschaft in Palästina und potenzieller Rivale der Fatah von Yassir Arafat. Nach 9/11 waren für viele US-Analysten „Demokratie“ und „Muslimbruderschaft“ ein Widerspruch in sich. Nahost-Kenner argumentierten dagegen, dass ein klarer Unterschied zwischen den Muslimbrüdern in Ägypten und al-Qaida zu erkennen sei. Erstere konnten sich auf Anhänger stützen, bei denen sich mit den Protesten von 2011 aufgestaute Wut gegen ein schamlos korruptes System entlud. Sie setzten auf Mohammed Mursi, während viele Ägypter in ihm nur ein Intermezzo sahen, bevor die Armee an die Macht zurückkehrte.
David Kirkpatrick fällt im Rückblick auf, dass diejenigen, die Mursis Sturz guthießen, zum Teil die Gleichen waren, die zuvor auch Mubarak loswerden wollten. Diese zwei Impulse schlossen sich keineswegs gegenseitig aus. Im Fall des Falles wollte das liberale, urbane Ägypten keinen Islamisten als Präsidenten hinnehmen, auch wenn der demokratisch und von einer Mehrheit gewählt worden war. Der einstige Chef der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), Mohammed el-Baradei, sympathisierte mit den Anti-Mubarak-Aktivisten und hatte keine Einwände gegen einen Putsch, der Mursi vom Präsidentenpalast ins Zuchthaus beförderte. In Washington befand der damalige Außenminister John Kerry ungeniert, Ägyptens Generäle hätten „die Demokratie wiederhergestellt“. Die Obama-Regierung weigerte sich, Mursis Sturz als „Putsch“ zu deuten. Man befürchtete, sich damit unter Druck zu setzen. Eine Kürzung der Hilfsgelder für Ägypten schien unausweichlich, hätte man sich zu der Lesart aufgerafft: Am 3. Juli 2013 gab es in Kairo einen Staatsstreich. Aber wenn etwas aussieht wie eine Ente und schnattert wie eine Ente, dann ist es auch eine Ente.
Nach Mursi kam General as-Sisi und verursachte ein Blutbad. Seine Regierung ließ Hunderte von Muslimbrüdern und deren Parteigänger töten, sodass im Sommer 2013 die Zahl der Todesopfer in Kairo größer war als bei der Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung auf dem Pekinger Tiananmen-Platz im Mai 1989. Es kam zu Massakern, bei denen die Menschen den Machthabern zujubelten. Entsprechend konnte Geheimdienstchef Omar Suleiman dem US-Fernsehsender CNN sagen: „Sie alle glauben an die Demokratie ... Aber wann ist der richtige Zeitpunkt, sie zum Tragen zu bringen? Nur dann, wenn eine demokratische Kultur vorhanden ist.“
Mit anderen Worten, der Gewaltakt eines Putsches und die Exzesse danach wurden zum demokratischen Schöpfungsakt verklärt. Wer das weiterhin so sieht, darf sich über die derzeit in Ägypten herrschenden Verhältnisse nicht wundern. Vor einem Monat erst hat ein Gericht 75 Pro-Mursi-Demonstranten für die Rolle, die sie bei den Straßenkämpfen nach dem Militärputsch gespielt haben, zum Tode verurteilt. Wer fragt noch danach, dass sich damals ganze Bezirke der Hauptstadt in Kampfzonen verwandeln konnten, in denen Checkpoints eine permanente Gefahr darstellten und lebensbedrohlich sein konnten? Der Korrespondent David Kirkpatrick erinnert sich, dass er angegriffen und seine Familie schikaniert wurde.
Zwielichtige Akteure
Bis heute spiegelt sich in der Willkür und den Repressionen des Post-Mubarak-Regimes auch die Schwäche des liberalen Lagers, das im 2015 gewählten Repräsentantenhaus, dem neuen Einkammern-Parlament in Kairo, ein Schattendasein fristet. Was auch daran liegt, dass vom Umschwung 2011 vielfach nur Kleinparteien übrig blieben wie die Sozialdemokratische Partei (vier Mandate), die Partei des modernen Ägyptens (4) oder die Partei des demokratischen Friedens (5). Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Vorstellung von einer Revolution, die 2011 mehr bewirkte, als einen Autokraten zu stürzen, mindestens genauso viel mit westlichem Narzissmus zu tun hat wie mit Ägypten.
Um die Ambivalenz der Akteure von einst zu zeigen, verweist Kirkpatrick auf die politische Bandbreite der Aktivistin Samira Ibrahim, die 2011 dadurch bekannt wurde, dass sie gegen Jungfräulichkeitstests kämpfte. Mit denen bedachte die ägyptische Polizei festgesetzte Demonstrantinnen, um sie abzuschrecken. Dabei war Ibrahim keine progressive Demokratin, im Gegenteil. Sie pries die Anschläge vom 11. September 2001, wünschte über den Nachrichtendienst Twitter, „Amerika möge jedes Jahr erneut brennen“, und zitierte Hitler in unkritischer Weise. Kurz vor dem Putsch am 3. Juli 2013 hatte eine Studie des US-amerikanischen Pew-Forschungszentrums ein Ägypten gezeigt, in dem sich eine Mehrheit der Muslime für die Demokratie aussprach. Jedoch ergab die gleiche Umfrage, dass zwei von fünf Muslimen Selbstmordattentate guthießen und drei Viertel das Scharia-Recht als Basis ihres Rechtssystems befürworteten. Zugleich hielt es ein Zehntel der Bevölkerung für angemessen, wenn Nicht-Muslime ihren Glauben nicht frei praktizieren durften. Als David Kirkpatrick Ägypten im Jahr 2017 noch einmal besucht hatte, notierte er kurz nach dem Abflug: „Sehr früh am Morgen verließ ich Kairo. Pläne, das Land noch einmal zu bereisen, habe ich nicht.“
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