Anderer Stern

Porträt Clare Smyth hat testosterongeschwängerte Londoner Spitzenküchen durchlebt und führt heute selbst ein exquisites Restaurant. Sie macht es auf ihre Art
Ausgabe 35/2018

Aus Gründen, die ich nie wirklich verstanden habe, wird Egomanie in der Küche traditionell mit ungeheurem Glamour belohnt. Er macht Männer zu Berühmtheiten, deren Führungsstil an jedem anderen Arbeitsplatz dazu führen würde, dass sie gefeuert werden. Für eine freundliche Chefköchin, von der die wenigsten überhaupt gehört haben, ist es daher bemerkenswert, zur besten der Welt ernannt zu werden. Noch ungewöhnlicher machte die Auszeichnung das – von der Gewinnerin selbst geäußerte – Unbehagen darüber, ob dieser Preis überhaupt existieren sollte.

Clare Smyth, Küchenchefin und Eigentümerin des Restaurants „Core“ im Londoner Notting Hill, wurde bei der Gala, die im Juni in Bilbao stattfand, zum „besten weiblichen Chefkoch“ ernannt. Ein Titel, der andere Chefköchinnen zu dem Einwand veranlasste, diese Kategorie sei „lächerlich“, „empörend“, „überholt“ und „bizarr“. Manche wiesen darauf hin, dass die Branche offenbar ein Sexismusproblem habe, wenn lediglich vier der 50 besten Restaurants der Welt von Frauen geführt würden. Die Auszeichnung würde dem Rechnung tragen und versuche dem entgegenzuwirken. „Wenn eine Unterscheidung nach Geschlechtern ein Schritt in Richtung Genderneutralität sein kann, dann: Warum nicht?“, argumentierte ein Kommentator.

Clare Smyth sagte in ihrer Dankesrede, dass „es keinen richtigen oder falschen Weg gibt, dieses Thema anzusprechen. Aber fest steht, dass sich nichts ändern wird, solange wir untätig bleiben.“ Gleichzeitig würde sich so eine spezielle Auszeichnung für Frauen sonderbar anfühlen.

Man kann sich schwer jemanden vorstellen, der weniger für Kontroverse gemacht ist als diese große, makellose, beherrschte Gestalt in weißer Kochkleidung, die mich in ihrem Restaurant in Notting Hill willkommen heißt. Das Core hat seit knapp einem Jahr geöffnet und offeriert eine Synthese aus Smyths klassisch französischer Ausbildung und einem Einfluss britischer Küche. Auf der Karte finden sich Gerichte wie Aal in Gelee mit gerösteten Algen und Malzessig, Gänseleber mit Madeiragelee und geräuchertem Entenfleisch oder Jakobsmuscheln von der Isle of Mull.

Mehr Sterne, weniger Frauen

Die Liste der 50 besten Restaurants halten Kenner der Branche inzwischen für mächtiger als den Michelin (zumindest außerhalb von Frankreich): Die in London herausgegebene Liste sei zum einflussreichsten Ranking der Gourmetszene avanciert.
In diesem Jahr kürte die Organisation die Britin Clare Smyth zur „besten weiblichen Köchin“ der Welt. Der 50 Best’s elit Vodka World’s Best Female Chef Award wird von Kollegen und internationalen Lebensmittelexperten vergeben. Er soll auf besondere Talente und herausragende Leistungen unter weiblichen Köchen aufmerksam machen.

Clare Smyth wurde zuvor bereits die erste weibliche britische Köchin, die drei Michelin-Sterne innehatte und sie behalten konnte. In diesem Mai servierte sie das Hochzeitsessen von Prinz Harry und Meghan Markle. In der Spitzengastronomie, der häufig ein aufreibendes und menschenfeindliches Arbeitsumfeld nachgesagt wird, arbeiten weltweit nur wenige weibliche Köche.

Nur vier der 50 besten Restaurants der Welt werden von Frauen geführt. Eine derer, die sich in Deutschland durchgesetzt haben, ist Douce Steiner. Die gebürtige Stuttgarterin ist mit ihrem Restaurant Hirschen in Sulzburg (das sie mit ihrem Mann zusammen betreibt) die Einzige, die vergangenes Jahr auf der Shortlist der besten Köche Deutschlands stand (die vom österreichischen Gastromagazin Rolling Pin aufgestellt wurde). Neben ihr befanden sich 49 Männer auf der Liste. Bei der Verleihung der Michelin-Sterne in diesem Jahr waren unter 300 geehrten Sterneköchen nur neun weiblich. Und: Je mehr Sterne, desto weniger Frauen. In der Kategorie „zwei Sterne“ gibt es eine einzige Frau. In der höchsten Kategorie – drei Sterne – gar keine. Maxi Leinkauf

Am Tag unseres Treffens hat das Restaurant geschlossen, also unterhalten wir uns im Speisesaal, der von dezenter Eleganz geprägt ist – kühles, helles Holz, atmosphärische Beleuchtung, frisches weißes Leinen.

Clare Smyth, 39, ging mit 16 Jahren von zu Hause – einem Hof in Nordirland – weg, um in England eine Ausbildung zu machen. Sie arbeitete unter Heston Blumenthal und den Roux-Brüdern, wurde die erste Frau in Gordon Ramsays Küche in Chelsea, stieg bei ihm schließlich zur Küchenchefin auf und sammelte nebenher noch drei Michelin-Sterne und einen Verdienstorden des britischen Empire (MBE).

Sie wählt ihre Worte mit Bedacht und spricht leise, ohne jede Geste oder Formulierung, die ihren Charakter offenbaren würde. Die nahezu spiegelglatte Selbstbeherrschung erinnert mich an die Fokussierung einer professionellen Athletin. Als hätte die Hingabe an ihre Berufung jede Faser in ihr absorbiert.

Kartoffeldetails

Ich bin mir sicher, dass Clare Smyth glücklich damit wäre, während des gesamten Interviews über nichts anderes zu reden als über Karotten und Kartoffeln. An ihrem freien Tag, an dem wir uns treffen, ist sie im Morgengrauen schon nach Leeds gefahren, um „Kartoffeln auszugraben, mit dem Agronomen zu arbeiten, die Geschichte der Pflanze kennenzulernen … alles von ihr: ‚Man muss sie innerhalb von 24 Stunden essen, muss sie auf diese Temperatur bringen‘, und so weiter. Es steckt so viel Wissenschaft, Geschichte und alles Mögliche in einer Kartoffel.“

Obskure gastronomische Details faszinieren sie, mich interessiert natürlich mehr, was sie über den Wirbel rund um ihre Auszeichnung denkt. Wenn sie die Kategorie „seltsam“ fand, hatte sie dann Bedenken, sie überhaupt anzunehmen – etwa aus Angst, damit womöglich festzuschreiben, dass weibliche Chefköche schlechter sind?

„Wenn die Food Community für dich stimmt und dir etwas geben möchte, dann ist das erst einmal nett. Also war mein Gefühl Dankbarkeit. Es geht um Anerkennung“, formuliert sie mit Bedacht. „Es handelt sich definitiv nicht um eine minderwertige Kategorie. Ich habe mich nie damit auseinandergesetzt, ob ich eine Frau oder ein Mann bin – und auch diesen Leuten“ – sie zeigt in Richtung ihres Teams in der Küche – „ist das nie in den Sinn gekommen. Das spielt keine Rolle und hat es nie getan.“

Diese restlos diplomatische Antwort passt nicht ganz mit dem zusammen, was Smyth in der Vergangenheit über das Verhältnis der Geschlechter in der Küche gesagt hat. „Die Leute sagen: ‚Ist sie nicht eine gute Chefköchin?‘ Und meinen: ‚für eine Frau‘. Aber ich will eine gute Köchin sein, weil ich eine gute Köchin bin, und nicht, weil ich eine Frau bin“, erklärte sie in einem Interview von 2008.

Als sie zum ersten Mal in Gordon Ramsays Team kam, war da „verdammt viel Testosteron in dieser Küche“, wie sie 2007 in einem Gespräch offenbarte. „Man sagte mir, ich würde es keine Woche aushalten – selbst Gordon sagte das. Andere meinten: ‚Das ist nichts für Mädchen, du solltest nicht hier sein.‘ Ich habe lange gebraucht, um mir Respekt zu verschaffen. Ich musste doppelt so hart arbeiten. Ich konnte nie sagen, dass ich müde oder krank war oder dass ich mir in den Finger geschnitten hatte, denn die Reaktion wäre gewesen: ‚Du bist eben ein Mädchen.‘“

Elf Jahre später beteuert Clare Smyth dennoch, eine Küche, in der das Geschlecht keine Rolle spielt, sei möglich und bereits Realität. „Als ich anfing, waren diese Küchen generell sehr testosterongetriebene Orte. In Küchen auf einem Top-Niveau geht es traditionell sehr hart zu: lange Arbeitszeiten mit schlechter Verpflegung für die Angestellten. Damals war das so, aber heute gehen wir zum Glück ganz anders mit den menschlichen Ressourcen um.“

Das Klischee des Chefkochs mit dem Temperament eines Vulkans sei völlig überholt und lächerlich geworden. „Heute wollen wir inspirieren, nicht ständig Angst und Schrecken verbreiten.“

Die Küchenkultur sei höflicher und zuvorkommender geworden. Es klingt so unwahrscheinlich, dass ich zunächst annehme, sie denke sich das gerade aus. Aggressiver Kontrollwahn gehört schon seit langem zum Mythos vom Chefkoch. Und da ich im Laufe der Jahre mehrere von ihnen interviewt habe, kann ich bestätigen, dass darin viel Wahrheit steckt. Aber Clare Smyth wirkt anders als alle Köche, die ich bislang getroffen habe.

Als ich sie frage, wie oft sie in der Küche schreit, sieht sie mich belustigt an. „Nicht sonderlich oft. Ich bin immer sehr ruhig und gelassen. Anstatt jemanden anzuschreien, der etwas nicht hinkriegt, coachen wir ihn ganz freundlich in eine andere Rolle oder helfen ihm vielleicht sogar, woanders einen Job zu finden. Aber ich stelle mich nicht hin, schreie jemanden an und beschimpfe ihn. Denn das ist nicht meine Aufgabe. Es ist einfach nicht nett, wissen Sie, und tut auch niemandem gut. Wir versuchen, Probleme in einem professionelleren Licht zu betrachten und mit Dingen wie Erwachsene umzugehen.“ Das klingt nicht danach, als halte sie strenge Kontrolle für notwendig. „Oh doch, das tun wir“, korrigiert sie mich. „Wegen der Übung.“

Ihr Restaurant fungiere auch als interne Akademie, mit einem Übungstag pro Woche, an dem das Küchenpersonal Projektaufgaben recherchiert – die dann dem gesamten Team präsentiert werden müssen – und einer täglichen Übungseinheit vor jedem Service, auf die ein Mitarbeiter sich speziell vorbereitet, der das Team dann zu einem bestimmten Wein oder Gericht brieft. Ist das in Restaurants so üblich?

„Nein. Aber wir geben den Leuten die Werkzeuge an die Hand, mit denen sie ihre individuellen Aufgaben ordentlich und sicher ausführen können. Aus diesem Grund haben wir wahrscheinlich mehr Kontrolle, auch wenn wir sagen, wir haben keine, weil unser Team seine Aufgaben wirklich gut kennt.“ Im Core gibt es für Gäste keine Kleiderordnung, anders als etwa im „Restaurant Gordon Ramsay“. „Leute, die dort recht förmlich gekleidet waren, überraschen mich und kommen auf einmal in Turnschuhen ins Core. Dann denke ich mir: Oh! Du bist also eigentlich gar nicht so. Wenn du es dir aussuchen kannst, wie du in ein feines Restaurant gehst, um etwas zu essen, dann ziehst du dir Turnschuhe an. Ich liebe es, Menschen zu beobachten – wer sie sind, wer sie sein wollen.“ Auf den Tischen im Core steht kein Salz und kein Pfeffer, aber wenn ihre Gäste danach fragen, bekommen sie die Gewürze. Zuckt sie zusammen, wenn jemand den „falschen“ Wein bestellt? „Nein, überhaupt nicht“, sagt Clare Smyth. „Die Leute sollen das haben, was sie wollen. Das ist unser Job. Meine Mutter könnte ihr Fleisch zum Beispiel gut durchgebraten haben wollen, es ist mir recht. Es ist nicht unsere Aufgabe, unseren Gästen vorzuschreiben, wie sie zu essen haben. Wir wollen nur, dass sie das bekommen, womit sie sich wohlfühlen. Wir sind da, um uns um die Leute zu kümmern.“

Diese fürsorgliche Haltung erklärt auch die eingeschränkten Öffnungszeiten des Core. Das Lokal bietet nur fünf Abend- und drei Mittagessen pro Woche an, und in jeder Schicht hat die gesamte Mannschaft Dienst. Somit besteht keine Gefahr, dass jemand einspringen muss, der eigentlich frei hat, weil ein anderer ausgefallen ist.

80-Stunden-Woche

Vor allem die mörderischen Arbeitszeiten in ihrer Branche seien der Grund dafür, dass so wenige der weltweit besten Restaurants von Frauen geführt werden. „Es kommen jede Menge Frauen in die Gastronomie, aber wir müssen sie unterstützen, damit sie es bis ganz nach oben, an die Spitze schaffen. Ich hoffe, dass wir dann neue Wege einschlagen werden. Dann müssen wir uns nicht mehr über Geschlechter unterhalten.“

Clare Smyth blickt ein wenig verlegen, als ich sie nach ihrer eigenen Work-Life-Balance frage. Dann gibt sie zu, dass sie 80 Stunden die Woche arbeitet. „Aber ich wäre heute Abend auch gar nicht lieber in einer Kneipe, nur so als Beispiel. Ich bin viel lieber hier. Für mich ist das keine Arbeit.“ Warum ist sie, angesichts dieser Hingabe an ihren Beruf, eigentlich nicht berühmter? Reizt es sie nicht, so wie viele männliche Kollegen, eine Kochsendung im Fernsehen zu moderieren? Sie blickt entsetzt. „Überhaupt nicht. Auf keinen Fall. So etwas inspiriert mich gerade nicht. Mit Lebensmitteln arbeiten, mit Produkten, mit der Natur – das finde ich aufregend. Ich bin kein Mensch, der sich in einem Fernsehstudio wohlfühlt.“

In diesem Jahr hat sie schon für die königliche Hochzeit gekocht, wird aber wortkarg, als ich darauf zu sprechen komme. Bis auf den Umstand, dass der Herzog und die Herzogin von Sussex zuvor bei ihr im Core zu Gast waren, gibt sie nichts preis.

Sie nimmt es überraschend gelassen, dass die Wahl des königlichen Paares auf sie gefallen ist. Wenn man auswärts koche, sei das Problem immer, dass man das Restaurant für einen ganzen Tag schließen müsse, wechselt sie geschickt das Thema. „Und dabei haben wir ziemlich viel zu tun“, murmelt sie.

Decca Aitkenhead schreibt für den Guardian

Übersetzung: Holger Hutt

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Geschrieben von

Decca Aitkenhead | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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