„Ich hoffe, die Leute zeigen nicht russische Flaggen aus Sorge um die Rechnungen“
Porträt Anstatt an seinem neuen Roman zu arbeiten, reist der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkov als informeller Botschafter seines Landes durch Europa. Rachel Cooke lud ihn in London zum Tee ein
In seinem neuen Buch, eine Variante des Tagebuchs, das er seit dem russischen Überfall auf sein Land führt, schreibt der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow unter anderem über Suppe. Es ist Juli, und an der kulturellen Front, wo die Kämpfe mit Russland ebenfalls „sehr aktiv“ sind, gibt es endlich gute Nachrichten für die Ukraine: Die Unesco hat soeben die ukrainische Art Borschtsch zuzubereiten als Immaterielles Kulturerbe eingestuft. Kurkow ist, wie der Rest seiner Landsleute, begeistert. Offenbar denkt die Welt anders als Marija Sacharowa, Sprecherin des russischen Außenministeriums, die wiederholt versuchte, den russischen Borschtsch vor „Übergriffen ukrainischer Nationalisten“ zu schützen.
Kurkow ist ein guter Koch. Am
r Koch. Am Abend des 23. Februar bereitete er in seiner Wohnung in Kiew für eine Gruppe von Journalisten einen rubinroten Borschtsch aus Roter Bete zu, der mit saurer Sahne und Dill garniert war (in der Ukraine soll es 300 Variationen des Gerichts geben). Seine Gäste bekamen das Ergebnis nie zu kosten. Um fünf Uhr am nächsten Morgen wurde Kurkow von drei Explosionen geweckt: Russische Raketen waren in der Ukraine eingeschlagen, der Krieg hatte begonnen. Vom 1. März an lebten er und seine britische Frau mehrere Hundert Kilometer entfernt in der Westukraine. „Ich hatte mir nicht vorstellen können, dass Glück so einfach zerstört werden könnte“, sagt er über seine Situation als Binnenflüchtling. „Ich dachte, mein Glück sei nicht materiell, sondern ein Geisteszustand, wie die Energie, die aus dem Blickkontakt mit einem anderen Menschen entsteht.“Kultur war nie wichtigerKurkows Tagebücher, aus denen Auszüge auf der ganzen Welt erschienen sind, lassen die ersten Kriegstage lebendig werden. Er schreibt mitreißend über die Zettel, die Menschen in ihre Autos legen, um Mitfahrten zur Grenze anzubieten; von seiner plötzlichen Sehnsucht nach der beruhigenden Süße des Honigs; von den Zigaretten, die man braucht, um russische Soldaten an Kontrollpunkten im Osten zu bestechen. Es sind Geschichten, die man nicht in den Fernsehnachrichten sieht: von den Puppen-Talismanen, genannt „oberig“, die Ukrainerinnen stricken und zusammen mit warmen Socken an die Front bringen; vom Aufstieg des Tiktok-Stars Tetyana Chubar, einer zierlichen, blonden, 23-jährigen geschiedenen Mutter von zwei Kindern und Kommandantin einer Panzerhaubitze.Aber diese seltsamen und beängstigenden ersten Wochen fühlen sich für ihn bereits wie eine andere Zeit an. Seitdem ist viel passiert. Seine Familie – er hat drei erwachsene Kinder – ist zurück in Kiew, die Stadt hat sich „wie ein Bienenstock“ wieder geöffnet, und er selbst reist kreuz und quer durch Europa, wobei er die Tatsache voll ausnutzt, dass er als 61-Jähriger das Land verlassen darf. Frankreich, Deutschland, Norwegen, Island: alle wollen ihn sprechen hören, dem kommt er gerne nach.Als wir uns in London treffen, ist er auf dem Weg zu einer Familienfeier in Oxford. Irgendwie konnte er es einrichten, zu mir zum Tee zu kommen. Was wollen die Fremden, die er trifft, am liebsten wissen, frage ich und ignoriere die Tatsache, dass er den Mund voller Kuchen hat. Normalerweise haben sie zwei Fragen, sagt er. Erstens wollen sie von ihm wissen, warum Putin in ihren Augen plötzlich so aggressiv geworden ist. Zweitens wollen sie wissen, warum sich die Ukrainer so heftig gewehrt haben.Und was antwortet er? Er widerspricht ein wenig denen, die von Putins imperialen Ambitionen sprechen. „Hinter seiner Aggression steckt sein Hass auf die ukrainische Gesellschaft“, sagt er. „Die ukrainische Mentalität ist das Gegenteil der russischen. In Russland ist die sowjetische Idee der kollektiven Verantwortung immer noch präsent – die Menschen sind loyal gegenüber der Regierung und leben in der Erwartung von Dingen wie Vetternwirtschaft –, während die Menschen in der Ukraine Individualisten sind. Sie haben eine Meinung, die sie verteidigen wollen. Es gibt über 400 politische Parteien, die bei unserem Justizministerium registriert sind.“ Er lacht. „Im Grunde sind die Russen Monarchisten und die Ukrainer Anarchisten.“ Deshalb kämpften sie auch so hart. Auch wenn der Krieg das Nationalgefühl der Ukrainer gestärkt habe, so treibe sie auch die Angst davor an, „wieder in der Sowjetunion zu leben ... Russland ist ein autoritärer Staat, und die Menschen in der Ukraine sind an Freiheit gewöhnt, daran, dass sie protestieren können, wenn sie unzufrieden sind“.Bekannt ist Kurkow vor allem für seinen 1996 erschienenen Roman Pinguine frieren nicht, der in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurde. Als der Krieg begann, arbeitete er gerade an einem neuen Roman, den er seither nicht mehr angerührt hat. Zuerst war er zu sehr abgelenkt und ihm fehlte seine Bibliothek in Kiew. Dann begann er, sein Tagebuch zu schreiben, das Telefon klingelte ständig und er war damit beschäftigt, der Ukraine in der Welt eine Stimme zu verleihen: „Es ist eine große Verantwortung. Ich wünschte, es gäbe mehr von meiner Sorte.“ Aber er weiß auch, dass es Dinge gibt, die hohl klingen würden, wenn sie von einem Nicht-Ukrainer kämen. Etwa über die Kultur. Er glaubt, dass sie nie wichtiger ist als in Kriegszeiten, und führt als Beweis an, dass die Bahnsteige der Metro in Kiew, kaum dass der Krieg begonnen hatte, als kostenlose Kinos genutzt wurden. „Die Menschen können nicht ohne sie leben“, sagt er. „Sie gibt dem Leben einen Sinn. Sie erklärt einer Person, wer sie ist und wo sie hingehört.“Junge sind eher für BoykotteAber auch die Kultur ist ein kompliziertes Feld. Wie Millionen von Ukrainern ist Kurkow, der in der Nähe von Leningrad geboren wurde, russischer Muttersprachler, und ein Teil der Faszination seines Buches liegt darin, wie er den Kampf um die Identität innerhalb des Landes schildert, der durch den Krieg verschärft wurde. So wurde der Boykott russischer Kultur gefordert. Doch während viele jüngere Ukrainer sich für diese Idee begeistern, sind ältere Menschen diesbezüglich eher konservativ. Der Beirat des Pjotr-Tschaikowski-Konservatoriums in Kiew beriet kürzlich darüber, ob es nach dem ukrainischen Komponisten Mykola Lysenko umbenannt werden sollte – und entschied sich dagegen. Ein opernbegeisterter Freund von Kurkow weinte derweil bei dem Gedanken, nie wieder Eugen Onegin im Kiewer Opernhaus zu hören.Macht er sich Sorgen angesichts solcher Spaltungen? Ein wenig, ja. „Ich vergleiche es mit meiner Sicht auf die deutsche Kultur als Junge. 1973 musste ich mich mit 12 Jahren in der Schule für eine Fremdsprache entscheiden. Ich sagte, dass ich niemals Deutsch lernen würde, weil die Deutschen meinen Großvater getötet hatten. Bis in meine 30er hinein war das für mich eine feindliche Kultur. Es war nicht gerechtfertigt, aber ... 40 Prozent der Ukrainer sind russischsprachig. Das Land wird sprachlich geteilt bleiben. Ich hoffe, wenn der Krieg vorüber ist, wird sich das auf den Straßen nicht bemerkbar machen.“Selbst die jungen Leute sind unendlich viel patriotischer als früher. „Meine Tochter ist britische Staatsbürgerin. Sie hat in London gearbeitet, als der Krieg begann. Aber im August hat sie ihre Wohnung aufgegeben und ist zurück nach Kiew gezogen, und sie hat angefangen, zum ersten Mal in meinem Leben mit mir Ukrainisch zu sprechen.“ Nicht, dass es in der Ukraine Arbeit für sie gäbe. Die wirtschaftliche Lage ist katastrophal. „Es ist schwierig, die Stimmung zu verallgemeinern. Aber viele der Flüchtlinge sind nicht optimistisch. Ich würde sagen, mindestens die Hälfte will nicht zurückkehren – entweder das, oder sie haben nichts, wohin sie zurückkehren könnten. Wer aus dem Donbass kommt, ist pessimistisch. Selbst wenn er befreit wird, ist er zerstört.“ Der Optimismus, sagt er, beschränke sich vor allem auf den Westen des Landes, wo die Menschen trotziger und politisch engagierter sind. Ist er selbst optimistisch? (Unser Gespräch findet statt, bevor es zu den erstaunlichen Erfolgen der Ukraine im Osten kommt – dazu später mehr). „Ich denke, der Krieg wird mindestens bis nächsten Sommer andauern. Es hängt vom Tod Putins ab und davon, wer die Macht übernimmt, denn es gibt mindestens vier verschiedene Möglichkeiten.“Was meint er damit? Ist es wahrscheinlich, dass Putin stirbt? (Gerüchte über seinen Gesundheitszustand gibt es viele.) „Solange er lebt, wird der Krieg nicht enden. Aber Russland gewinnt nicht, und das dürfte sich auf seine Gesundheit auswirken ...“ Er wirft mir einen vielsagenden Blick zu. „Ich bin kein Geheimdienstler, aber ich glaube, in Russland wird [hinter den Kulissen] gekämpft. Diese seltsamen Selbstmorde sind wichtig. Sie passieren nicht zufällig.“ (Er bezieht sich unter anderem auf den Tod des Ölmanagers Rawil Maganow, dessen Unternehmen die russische Invasion kritisiert hatte. Er starb nach einem „Sturz“ aus dem Fenster eines Moskauer Krankenhauses.) Die Elitegeneräle und der FSB würden seiner Meinung nach die russische Aggression gerne fortsetzen. Aber die Oligarchen könnten andere Vorstellungen haben: „Wenn die Oligarchen alle Generäle bestechen, kann der Krieg meiner Meinung nach sehr schnell beendet werden. Die Oligarchen leiden. Sie wollen zurück nach Nizza und Cannes. Sie wollen ihre Jachten.“Und welche Rolle spielt Europa? „Europas Rolle ist nicht ganz entscheidend, aber doch fast“, sagt er. Er stellt fest, dass Frankreich und Deutschland noch nicht die versprochene militärische Hilfe geleistet haben. „Ohne Großbritannien und Amerika wären wir nicht da, wo wir jetzt sind“. Bei seinem letzten Besuch im Vereinigten Königreich waren überall ukrainische Flaggen zu sehen; dieses Mal sind es viel weniger. „Ich hoffe, dass die Leute nicht anfangen, russische Flaggen zu zeigen, weil sie sich Sorgen um ihre Rechnungen machen“, sagt er mit einem Lächeln. Der Westen sollte sich daran erinnern, dass russische Agenten gut darin sind, Dissens zu schüren, von dem ihr Land profitiert: „Gestern waren in Prag 70.000 pro-russische Demonstranten auf der Straße.“In der Ukraine haben die Menschen ihre eigenen alltäglichen Kämpfe zu bestehen, selbst diejenigen, die in relativer Sicherheit leben. Die Papierknappheit, mit der die Verleger zu Beginn des Krieges kämpften, hat sich endlich gebessert. Andere Probleme bestehen fort. In seinem Tagebuch hält Kurkow seinen Frust darüber fest, dass es im ganzen Land kein Tonic gibt. „Die offene Flasche Gin, die in der Wohnung steht ..., hat jede Bedeutung verloren“, schreibt er. Ist wenigsten diesbezüglich die Lage besser? Er lacht. Die Ginflasche begleitete ihn auf seinem Roadtrip und ist jetzt fast leer. „Ich habe meinen Freund in Kiew gebeten, herauszufinden, ob es dort noch Tonic gibt ... Warte einen Moment. Ich schicke ihm eine Nachricht.“ Er schaut auf sein Handy, schüttelt den Kopf. „Nein, kein Tonic.“ Aber seine Reisen sind das Stichwort, um aufzubrechen. „Kommen Sie nach Kiew“, sagt er im Gehen. „Wir freuen uns über Besuch, ich koche Borschtsch für Sie.“Eine Woche später sind die Nachrichten voll von Berichten über die kilometerlangen Gebiete, die die Ukraine im Osten befreit hat, und über den überstürzten Abzug der russischen Armee. Ich schicke Kurkow eine Nachricht, und ein paar Stunden später – er schloss gerade seine Kolumne für eine norwegische Zeitung ab – ruft er mich irgendwo aus Deutschland zurück. Selbst für seine Verhältnisse – Kurkow hat ein Lächeln, das die Sophienkathedrale erleuchten könnte – klingt er außerordentlich glücklich. „Es ist noch zu früh, um Vorhersagen zu treffen“, sagt er. „Aber die Ukrainer sind guter Dinge. Alles hat sich verändert, und zwar sehr schnell.“ Ich sage ihm, dass die Leute in London von einem Rückzug reden. „Ach, na ja“, sagt er. „Die Russen sind stolz, sie werden dieses Wort nicht benutzen, also haben wir in der Ukraine einen neuen militärischen Begriff für sie erfunden. Das ist ein ‚negativer Vormarsch‘.“ Er lacht herzhaft und verabschiedet sich. Zeit, sich wieder auf den Weg zu machen.Placeholder authorbio-1