Maustetytöt: Anna und Kaisa Karjalainen, finnische Spice Girls mit Depression
Musik Sogar der Friedhof hat Zäune: Anna und Kaisa Karjalainen aus Finnland machen als Maustetytöt Musik zum Aufgeben – und werden so zu Vorboten eines Happy Ends
„Pessimismus liegt bei uns in der Familie“, sagt Kaisa Karjalainen (rechts)
Foto: Aki Roukala
„Du kannst es in ihren Gesichtern sehen / Oh, ihre Freude hat keine Grenzen“, heißt es im Refrain eines Songs auf dem 2023 erschienenen Album Maailman Onnellisin Kansa des finnischen Pop-Duos Maustetytöt, übersetzt bedeutet der Titel in etwa „Die glücklichsten Menschen der Welt“. Aber es kann eine Herausforderung sein, in den Gesichtern von Kaisa und Anna Karjalainen Anzeichen von Jubel – oder überhaupt von Emotionen – zu erkennen.
Die beiden Schwestern, die in ihrem Heimatland bereits Stars sind, haben sich diesen Winter dem Rest der Welt vorgestellt, und zwar mit einem Auftritt in Aki Kaurismäkis oscarnominierter Tragikomödie Fallen Leaves. Es ist die Schlüsselszene in einem unaufgeregten Feelgood-Film, der in vie
es. Es ist die Schlüsselszene in einem unaufgeregten Feelgood-Film, der in vielen Bestenlisten zum Jahresende ganz oben stand, aber Maustetytöts Performance könnte nicht unaufdringlicher sein: Die beiden spielen in einer schummrigen Karaoke-Bar, bewegen kaum ihre Körper oder ihre Gesichtsmuskeln, während sie sorgsam ihre Instrumente spielen.In ihren Musikvideos trägt Gitarristin Anna, 31, meist eine Sonnenbrille, während Sängerin und Keyboarderin Kaisa, 30, mürrisch dreinschaut oder mit dem Gesicht nach unten an einem Tisch sitzt. Auf ihrer Website verkaufen sie Merchandise mit dem Hardcore-Smiley, dessen Mundwinkel allerdings nach unten zeigen. So drückt sich Freude normalerweise nicht aus. „Wir sind sehr pessimistisch“, sagt Anna bei einem Videoanruf mit ausdrucksloser Miene. „Dieser Spirit liegt bei uns in der Familie“, fügt ihre jüngere Schwester hinzu.Maustetytöt bedeutet „Spice Girls“ auf Finnisch, was sowohl eine Anspielung auf die erste Band der beiden Frauen ist, die Kaneli hieß („Zimt“), als auch auf die englische Girlgroup. „Ein Freund von uns hat uns so genannt“, sagt Kaisa. „Die Ironie dabei ist, dass wir so weit wie nur möglich von den ursprünglichen Spice Girls entfernt sind. Wir bekamen viele Rückmeldungen, dass der Name schrecklich sei, aber wir haben zum Prinzip erhoben, dass es Mogelei wäre, ihn zu ändern.“ Sporty Spice und Co, stellt sie klar, waren kein musikalischer Einfluss. „Ich mochte sie vielleicht, als ich vier war.“Was nicht heißen soll, dass die Schwestern eingängigen Refrains abgeneigt sind. Maustetytöt sind etwas Ungewöhnliches: eine Band mit einer Anti-Pop-Attitüde, die nicht anders kann, als großartige Popsongs zu schreiben. Ihre erste Single, Tein Kai Lottorivini Väärin („Ich muss mich beim Lottoschein vertan haben“) aus dem Jahr 2019, beginnt wie ein Garage-Rock-Hit mit spartanischem Schlagzeug und simplem Gitarrenanschlag, um dann in eine symphonische Hymne auszubrechen, die beim Eurovision Song Contest für Furore sorgen würde.Thematisch könnten ihre Alben nicht weiter vom Hedonismus der 90er-Girl-Power entfernt sein: Das 2019er-Album Kaikki Tiet Vievät Peltolaan („Alle Wege führen nach Peltola“) mag „von Dekadenz und Alkoholkonsum“ handeln, aber das 2020er-Nachfolgealbum Eivät Enkelitkään Ilman Siipiä Lennä („Auch Engel fliegen nicht ohne Flügel“) war „schon ernster, es ging um Selbstmord, Gewalt und psychische Krankheiten“, sagt Anna, während ihr neuestes Werk von „Immigration, Flüchtlingen und Krieg“ handelt.Dennoch erreichten zwei ihrer Alben Platz eins der finnischen Charts und die ersten beiden wurden mit Gold ausgezeichnet. „Vielleicht ist Pessimismus etwas, das den meisten finnischen Menschen innewohnt“, sagt Anna. „Hier oben ist es kalt und dunkel, da fällt es schwer, glücklich zu sein.“In der Zusammenarbeit mit Kaurismäki trafen sie einen Gleichgesinnten. Der 66-jährige Autorenfilmer lässt in seinen Filmen häufig Live-Bands auftreten und schaffte 1989 seinen internationalen Durchbruch mit Leningrad Cowboys Go America, einer Mockumentary über eine finnische Rockband, deren Mitglieder alle unmögliche Frisuren und lange spitze Schuhe tragen. Die Band, die vom Regisseur als Witz erfunden wurde, nahm acht Alben auf und tourte durch Europa.Im Jahr 2022, erzählt Anna, wurden sie gebeten, in der Jury eines Studentenfilmfestivals in Karkkila, wo Kaurismäki lebt, mitzuwirken: „Wir wollten eigentlich ablehnen, weil wir mit unserem dritten Album beschäftigt waren, aber als es hieß, dass wir Aki treffen könnten, haben wir es uns anders überlegt, denn wir waren schon immer große Fans seiner No-Bullshit-Attitüde: direkte Filme mit guten Plots und guten Schauspielern. Keine Tricks.“Der Filmemacher gab das Kompliment zurück. „Er sagte uns, dass wir in unserer Musik die Dinge so sagen, wie sie sind, und das gefiele ihm“, sagt Kaisa. Die Szene, für die er die Schwestern gecastet hat, wird dadurch eingeleitet, dass die Protagonistin Ansa (Alma Pöysti) die Augen schließt und einschläft – doch falls das eine Traumsequenz sein soll, Wünsche gehen hier nicht in Erfüllung. In schäbigen Bademänteln tragen Maustetytöt ein Lied vor, das die verzweifelte und düstere Stimmung noch verdunkelt.„Ich bin hier für immer gefangen“, heißt es im Refrain des Songs. „Sogar der Friedhof hat Zäune / Wenn mein irdisches Leben vorbei ist / Grabt ihr mich nur tiefer in die Erde.“ Anna sieht es so, dass die Musik Ansas alkoholkrankem Liebhaber Holappa (Jussi Vatanen) einen Ausblick auf seine Zukunft gibt, falls er nicht mit dem Trinken aufhört. „Es ist der Punkt, an dem ihm klar wird, dass er sterben wird, wenn er nicht aufhört.“ Und so sind Maustetytöt dann doch Vorboten eines Happy Ends.Placeholder authorbio-1
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