Co-abhängigkeitserfahren, willensstark und trotz ihres Hundes noch einsam: Ansa (Alma Pöysti)
Foto: Malla Hukkane / Sputnik Oy / Pandora Film
Wahrscheinlich sind das die wirklich wichtigen Orte eines Lebens: Zuhause. Kneipe. Kino. Arbeit. Zwischen diesen geografischen Eckpunkten bewegen sich der alkoholabhängige Gelegenheitsjobber Holappa (Jussi Vatanen) und die Verkäuferin Ansa (Alma Pöysti) durchs menschenleere Helsinki. Dass die beiden unwissentlich bereits von Anfang an durch ihre Einsamkeit verbunden sind, ist nur für das Publikum sichtbar: Ansa geht zu ihrer Schicht im Supermarkt und füllt die Regale auf, dann geht sie wieder nach Hause; sie schaltet das Radio ein, aus dem Kriegsnachrichten aus der Ukraine ertönen, dann wieder ab. Holappa trinkt sich heimlich bei der Arbeit auf einer Baustelle (ohne sichtliche Wirkung) auf Pegel und bedient danach noch schweres Gerät; später liegt er
er in seinem trostlosen Montage-Doppelzimmer und liest Cartoons.Doch irgendwann begegnen die beiden sich – Holappas Kollege Huotari (Janne Hyytiäinen) überredet seinen Kumpel, ihn zu einer Karaokeveranstaltung zu begleiten. Dort sitzen auch Ansa und ihre Freundin Liisa (Nuppu Koivu). Von Funkensprühen und Glockenläuten zu sprechen, wäre stark übertrieben. Aber irgendwas zieht Ansa und Holappa zueinander. So geht die blonde, feingesichtige Frau mit dem großen, dünnen Mann ins Kino, gibt ihm ihre Telefonnummer – und einen vorsichtigen Kuss.Eingebetteter MedieninhaltDass das in einer regennassen Nacht vor einem Retro-Lichtspieltheater passiert, in dessen Schaukasten neben dem Poster zu Jim Jarmuschs The Dead Don’t Die auch finnische Plakate von Begegnung (Brief Encounter), David Leans berühmter, 1945 nach einem Bühnenstück von Noël Coward inszenierter Liebestragödie und Godards enigmatischem Drama Verachtung (Le mépris) von 1963 hängen, ist selbstverständlich kein Zufall: In Begegnung treffen ein verheirateter Mann und eine ebenso gebundene Frau aufeinander und fliehen vor der Realität ins Kino; Verachtung erzählt die Geschichte eines Drehbuchautors, der einen Fritz-Lang-Film adaptieren soll – und dessen Ehe darüber in die Brüche geht. Später fließen wie von selbst ein paar Brocken eines Gesprächs über Robert Bresson in das Drehbuch ein – Regisseur Aki Kaurismäki liebt Kino-Zitate.Charmante Tristesse eines 60er-Jahre-SchallplattencoversIm Film, der seine Festival-Premiere in diesem Jahr im Wettbewerb von Cannes feierte und dort mit dem Jury-Preis ausgezeichnet wurde, zeigt Kaurismäki sich abermals verlässlich als Virtuose der Reduktion. Ob Dialog, Setdesign oder die verstohlenen Blicke, die die grundsympathischen, auf eine unaufdringliche Art attraktiven Protagonisten und Protagonistinnen tauschen – alles passiert in klassischer Kaurismäki-Tristesse, die immer ein wenig aussieht wie ein verramschtes, aber charmantes 60er-Jahre-Schallplattencover.Liebe, Einsamkeit und Eskapismus: Kaurismäki hat die Sentimente seiner filmischen Welt schon vor Jahrzehnten festgelegt und in sogenannten Proletariats-, Verlierer- oder Flüchtlings-Filmtrilogien verewigt. Fallen Leaves gilt als „vierter Teil“ der Arbeitertrilogie (zusammen mit Schatten im Paradies von 1986, Ariel von 1988und Das Mädchen aus der Streichholzfabrik von 1990), aber anders als zum Beispiel Ken Loach scheint es Kaurismäki mehr um die Gefühle seiner Helden und Heldinnen zu gehen als um die Darstellung einer prekären Umgebung, die ihnen durch die sozialen Strukturen immer wieder Grenzen aufzeigt. Der gezeigte Konflikt könnte demnach auch von Menschen ausgefochten werden, die sich in weniger tristen Verhältnissen herumtreiben.Jenes in knappen Szenen und Worten gezeichnete Dilemma ist dabei kein bisschen oberflächlich. Denn Holappa verliert Ansas Telefonnummer, und mit der Anstrengung, die Frau dennoch wiederzufinden, scheint sein letzter Rest an Selbstachtung zugunsten seiner Sucht zugrunde zu gehen. Als sich die beiden endlich treffen können, kann er den Abend bei ihr zu Hause nicht überstehen, ohne heimlich Alkohol zu trinken. Das akzeptiert die willensstarke und co-abhängigkeitserfahrene Ansa aber nicht – sie stellt Holappa ein Ultimatum.Flucht ins wortkarge HelsinkiUnmerklich wird aus der lakonischen Tragikomödie somit eine waschechte Tragödie mit tiefer Fallhöhe – und es ist Kaurismäkis Verdienst, dass man die beiden Hauptdarsteller:innen so leidenschaftlich „shipt“, wie es sonst nur Teenager beim Serienschauen tun. („Shippen“, abgeleitet von „relationship“, bedeutet, dass man sich für Film- oder Serienfiguren eine Beziehung wünscht, weil man sie lieb gewonnen hat oder sich mit ihnen identifiziert.) Auch die Nebenfiguren, Holappas „Wingman“ Huotari, und Ansas „Wingwoman“ Liisa, spielen sich mit wenigen Aktionen – singen, die Wahrheit sagen, dem Freund der Freundin beistehen – ins Herz.Darüber hinaus kann man dem Regisseur Aki Kaurismäki gewiss vorwerfen, sich in Thematiken, Inszenierungsideen, Tonalität und vermutlich auch Regieanweisungen zu wiederholen. Aber mittlerweile sind seine Filme, die den Eskapismus – in diesem Fall in Form von Alkohol, Kino und Musik – stets liebevoll zelebrieren, selbst zu Eskapismen geworden: Um der Realität zu entkommen, geht man in einen Film, in dem die Helden und Heldinnen in einen Film gehen, um der Realität zu entkommen. Das analoge Setting, das die Filme in einer zeitlosen oder zumindest WLAN-freien Atmosphäre verortet, verstärkt dabei noch die Distanz zum wirklichen Leben: Es ist, als ob man nicht nur an einen anderen Ort, in ein anderes Leben, sondern auch noch in eine andere Epoche versetzt wird. Die Grundprobleme wären eh auch in modernen, digitalen, schnell erzählten Dramen die gleichen.Und eins muss man Kaurismäkis Anachronismus ohnehin lassen: Trotz Ungastlichkeit und Kälte möchte man sich manchmal gern in dieses komische, dunkle, unmoderne, von wortkargen, großen Menschen und Säufern und Säuferinnen bevölkerte Helsinki flüchten und in einer schummerigen Bar einem tröstlichen Karaoke-Chanson lauschen. Selbst wenn man kein Wort Finnisch spricht.Placeholder infobox-1