Wer seinen Beitrag zum Klimaschutz leisten möchte und auf Reisen in ferne Regionen verzichtet, für den mögen medial vermittelte Einblicke in das Leben auf anderen Kontinenten zumindest ein Trostpflaster sein. Gerade Filme aus Ländern, die selten den Weg auf die heimische Kinoleinwand finden, scheinen dafür prädestiniert. Manchmal werden sie dann als Repräsentanten eines Landes, als Botschafter einer anderen Welt wahrgenommen. Man denke an Whale Rider (2002), die neuseeländisch-deutsche Produktion, in der ein zwölfjähriges Māori-Mädchen sich seinen Platz in der von starken Männern geprägten Gesellschaft erobert. Oder an den isländischen Episodenfilm Von Menschen und Pferden (2014), der die zwei- und vierbeinigen Bewo
und vierbeinigen Bewohner Islands in absurden, teils schwarzhumorigen Situationen vorstellt.Nun sollte man nicht der Versuchung erliegen, fiktionale Erzählungen mit der Alltagswelt in der isländischen Peripherie oder dem Neuseeland der Māori zu verwechseln. Aber Spielfilme können etwas über das Leben an einem Ort erzählen, wenn sie relevante Themen verhandeln. Ebendies trifft auf die sechs Filme der Sommerkinoreihe Box Office Around the World in Berlin zu, ausgewählt von der in außereuropäischen Produktionen geschulten Kuratorin Dorothee Wenner und den August über im Schlüterhof des Humboldt Forums zu sehen. Die aktuellen thailändischen, argentinischen, nigerianischen, vietnamesischen, brasilianischen und indischen Produktionen waren in ihren Herkunftsländern allesamt Kassenschlager. Sie sind Produkte einer jeweils eigenen Filmindustrie und -tradition und nehmen wenig Rücksicht auf europäische oder US-amerikanische Sehgewohnheiten. Wer sich aber auf sie einlässt, wird mit seltenen Seherfahrungen belohnt und mit der Einsicht, dass massentaugliches Kino jenseits von Babelsberg und Hollywood in Erzählweisen und Ästhetik diverser ist, als man sich das in einer globalisierten Welt vorstellen mag.Trotz aller Unterschiede durchzieht ein Motiv nahezu alle der sechs Filme: das der starken Frau und des weiblichen Familienoberhaupts, das seine Rolle mit aller Wucht durchzusetzen vermag. In dem vietnamesischen Film Nhà Bà Nũ (2023) ist Ngoc Nu genau so eine Frau. Sie hat ihre Töchter unter der Fuchtel und wacht darüber, wann sie am Wochenende aufstehen und mit wem sie ihre Abende verbringen. Weil aber auch Tochter Ngoc Nhi sich durchzusetzen weiß, verlässt sie ihr Elternhaus, zieht mit ihrem Freund John zusammen und entscheidet zum ersten Mal selbst über ihr Leben. Zwischen Mutter und Tochter steht Ngoc Nga, die Großmutter von Ngoc Nhi. Sie lebt ihr eigenes Leben, beobachtet die Konflikte zwischen den Generationen und wirkt hier und da ausgleichend ein. Das Nachsehen haben die männlichen Partner dieser Frauen. Sie hadern mit ihrer Rolle und sind den Ansprüchen ihrer Partnerinnen kaum gewachsen. Regisseur Tran Thanh inszeniert dieses Beziehungsgeflecht als Komödie und setzt auf Slapstick, wenn es einmal zu romantisch wird.Eine reine Liebeskomödie ist hingegen der thailändische Film OMG! Oh My Girl (2022), in dem Guy und June verzweifelt versuchen, zueinanderzufinden. Dass Regisseur Thitipong Kerdtongtawee sein Können an Musikvideos geschult hat, ist dem Film anzumerken. In eindrucksvollen Bildern erzählt er komplizierte Beziehungen mit großer Leichtigkeit.Selbst ist die FrauHandfest geht es hingegen bei den Stiefschwestern Yejide und Awele im nigerianischen Battle on Buka Street (2022) zu. Auch hier wohnen drei Generationen unter einem Dach, auch hier sind es in der Mehrzahl Frauen. Die Schwestern Yejide und Awele befinden sich seit jeher in Konkurrenz zueinander und tragen diese auf der Buka Street aus, in der sich die Essensbuden wie auf einer Schnur reihen und in der um jeden Kunden gefeilscht wird. Wer hier bestehen will, muss die Dinge selbst in die Hand nehmen. Der 140 Minuten lange Film schlägt jenseits des schwesterlichen Konflikts viele Nebenstränge ein und entfaltet sich zum Gesellschaftsdrama. Zugleich knüpfen die nigerianische Schauspielerin und Filmproduzentin Funke Akindele und ihr Kollege Tobi Makinde mit polygam zusammengesetzten Familien, spirituellen Erfahrungen und reichlich Action an etablierte Nollywood-Traditionen an.Während diese Filme ihre Zuschauer mit Happy Ends und moralischen Handlungsempfehlungen versorgen, entlässt der brasilianische Regra 34 (2022) die Zuschauer in die Selbstverantwortung. Die 1979 geborene Regisseurin Julia Murat greift in ihrem Film auf die Tradition des „cinema marginal“ zurück, jenes provokante brasilianische Kino, das um 1970 gesellschaftlich Abseitiges auslotete und dabei Gewalt und Sexualität erkundete. Auch Regra 34 scheut keine Tabus und begleitet die Jura-Studentin Simone im Ausleben ihrer Lust an sadomasochistischen Sexpraktiken. Simone ist schwarz, und so wird der Sex zum Machtspiel, das gesellschaftliche Rollen spiegelt, aber auch umzukehren vermag. Doppelbödig und verstörend gelingt dem Film die Wechselübung zwischen Uni-Hörsaal und Schlafzimmer, zwischen Intellekt und Affekt. Indem das Öffentliche und das Allzu-Private zusehends verschwimmen, schält sich die politische Dimension heraus, werden der brasilianische Rassismus und die fünfthöchste Femizid-Rate der Welt in Beziehung gesetzt.Gleichermaßen politisch ist der zweite Beitrag aus Südamerika. Argentina, 1985 (2022), der für die diesjährigen Oscars nominiert war, zeigt das Land nach dem Ende der Militärdiktatur und erzählt das Ringen um die Zukunft Argentiniens aus Sicht des Bundesstaatsanwalts Julio Strassera. Nicht weniger brisant ist der indische Thriller Afwaah (2023), in dem eine fingierte Entführung das Aufbrechen interreligiöser Konflikte provoziert. Ein Film, der näher an der Realität ist, als einem lieb sein kann.Mit Ausnahme der Amazon-Produktion Argentina, 1985 zeigt Box Office Around the World Filme, die sich nicht an einen globalen Markt richten, sondern an ein eingeweihtes Publikum, das mit den Sehgewohnheiten und Anspielungen des jeweiligen Herkunftslandes vertraut ist. Wer dieses Kontextwissen nicht mitbringt, der kann als Zuschauer schon mal auf dem Schlauch stehen. Genau diese Erfahrung macht die Filme zu mehr als einem Trostpflaster für die ausbleibende Fernreise.