Ausblick: Abgrund

Griechenland Wie das ganze Land kämpfen kulturelle Institutionen in Athen ums nackte Überleben
Ausgabe 34/2018
Mit Athene wacht eigentlich ein göttlicher Schutz über den Kunstbetrieb der Hauptstadt. Doch für viele bleibt dieser Schutz ein Mythos
Mit Athene wacht eigentlich ein göttlicher Schutz über den Kunstbetrieb der Hauptstadt. Doch für viele bleibt dieser Schutz ein Mythos

Foto: Louisa Goulliamaki/AFP/Getty Images

Der Kulturverein Parnassos, Griechenlands älteste Literaturgesellschaft, residiert gegenüber einer Kirche an einem der ältesten Plätze Athens. Die neoklassische Fassade und die monumentalen Säulen des Gebäudes beeindrucken. Die nach der Heimat der Musen benannte Gesellschaft wurde 1865 gegründet, um „eine intellektuelle, moralische und soziale Verbesserung“ der Nation voranzutreiben. Frisch von den Ketten osmanischer Herrschaft befreit, versuchten die Griechen wie andere Staaten in Europa zu sein. Bei Parnassos war der Ort, wo sich Dichter trafen, Maria Callas sang, Künstler Ausstellungen eröffneten und Mitglieder königlicher Familien begrüßten. Parnassos’ Schicksal in den vergangenen Jahren spiegelt das der Griechen. „Wir durchlebten schwierige Zeiten“, meint Leonidas Georgopoulos, ein vitaler Mann Ende 70 aus dem Parnassos-Vorstand. „Man kann sagen, es war eine Ära des Niedergangs. Aber auf solche Phasen folgt stets eine Renaissance, die wir jetzt erwarten.“

Griechenland scheint am Ende einer Odyssee angekommen. Nach acht Jahren voller Dramen ist am 20. August das letzte Rettungsprogramm für das geplagte Land ausgelaufen. Da wirken auch die Gesichter von EU-Politikern in Brüssel einigermaßen erleichtert. „Griechenland ist dabei, wieder auf eigenen Füßen zu stehen“, sagt EU-Kommissar Pierre Moscovici fast begeistert. Von internationaler Kontrolle befreit, könne es seinen Platz als „normales Land in der Eurozone“ wieder einnehmen. Tatsächlich haben die Griechen in den Abgrund geblickt und waren gefährlich nah dran, aus dem Euro zu fliegen. Sie mussten erfahren, wie ihr Einkommen durch eine von Spardogmen externer Geldgeber verursachte Rezession drastisch einbrach und die Arbeitslosenrate gen Himmel schoss. Ist das Schlimmste vorbei? Wurde ein ökonomisches Armageddon abgewendet? Liegt Moscovici richtig mit seinem Verweis auf die wiedergewonnene Souveränität?

DNS der Krise

Was an Sparauflagen auch immer verhängt wurde, es griff in das Leben von Millionen Griechen ein

Die Lunte brennt

Dezember 2009

Bei einem Haushaltsdefizit von gut 13 Prozent steht Griechenland vor dem Bankrott. Rating-Agenturen stufen die Staatsanleihen auf Schrottstatus herab.

Fremdbestimmt

Mai 2010

Der Euro gerät in den Sog der Griechenlandkrise, daraufhin beschließen die Eurostaaten ein erstes Hilfsprogramm (80 Mrd. Euro), das zum Sparen zwingt und durch die Troika aus IWF, EU-Kommission und EZB überwacht wird.

Elendsökonomie

Februar 2012

Das Kabinett Papadimos (parteilos) streicht bis 2016 150.000 Stellen im öffentlichen Dienst, muss die Renten um 20 Prozent kürzen, den Mindestlohn von 751 auf 586 Euro senken.

Der Tragödie nächster Akt

Juli 2012

Jeder vierte Grieche ist arbeitslos und die Wirtschaft um vier Prozent geschrumpft, als ein zweites Ret­tungspaket (144,7 Mrd. Euro) vereinbart wird, das an einen um 12,5 Mrd. Euro gekürzten Sozialetat gebunden ist.

Sparpolitik abgewählt

Januar 2015

Die linke Partei Syriza gewinnt die Parlamentswahl. Als Premier kündigt Alexis Tsipras ein Ende der rigiden Reformen an und will bei der Troika einen Schuldenschnitt durchsetzen.

Arbeit ohne Lohn

März 2015

Wegen der hohen Arbeitslosigkeit ist es für die 30-jährige Journalistin Kelly Fanarioti normal, „bei einer Anstel­lung die ersten Monate gratis zu arbeiten“. Beim Heizen, Essen und anderen Anschaffungen seien deshalb ständig Abstriche nötig.

Drohender Grexit

Juli 2015

Bei einem von Syriza anberaumten Referendum lehnen 61,3 Prozent die Sparauflagen der Troika ab. Als jedoch ein Grexit droht, muss Premier Tsipras kapitulieren und ein drittes Hilfspaket (86,0 Mrd. Euro) hinnehmen.

Pensionär, gib’s her

Januar 2016

Der einstige Kaufmann Stavros Staikos muss die dritte Rentenkürzung in fünf Jahren verkraften und nun mit einer 700-Euro-Pension auskom­men. Er bezweifelt, damit seine Wohnung in Athen weiter halten zu können.

In der Schuld

Februar 2017

Die Finanzbehörden geben bekannt, dass 51,4 Prozent der Griechen dem Staat im Schnitt 500 Euro Steuern schulden. Es habe wegen dieser Außenstän­de seit 2010 16.789 Zwangsversteigerungen gegeben.

Endlich vorbei

April 2018

Premier Tspiras erklärt im Parlament, er wolle einen „sauberen Ausstieg“ aus dem Sparprogramm, wenn am 20. August das dritte Hilfspaket ausläuft. Man habe dann wieder Zugang zum Finanzmarkt und handle eigenständig.

In einem Vorraum des griechischen Parlaments sitzt der Abgeordnete Harry Theocharis und ist skeptisch. Unter den Kristallleuchtern des Salons ist wenig von Jubel zu spüren. Hat man in diesem Gebäude mit so vielen zermürbenden Abstimmungen über die Auflagen der Troika nichts zu feiern? „Natürlich gibt es ein Aufatmen, aber das versetzt die Leute nicht in Begeisterung“, meint Theocharis, der auf dem Höhepunkt der Krise die Abteilung für öffentliche Steuern des Finanzministeriums geleitet hat und jetzt als unabhängiger Abgeordneter im Parlament sitzt. „Unsere Gläubiger verschwinden ja nicht einfach. Und im Januar muss der Haushalt noch einmal um 1,8 Milliarden gekürzt werden, kein Grund zur Euphorie also.“ Dennoch teile er die Überzeugung von Premier Alexis Tsipras und sage wie er: Das Land gewinnt politische und finanzielle Unabhängigkeit zurück. Psychologisch sei das von Wert. „In drei Jahren jährt sich der Beginn des griechischen Unabhängigkeitskriegs gegen das Osmanische Reich zum 200. Mal. Wir können das Jubiläum in dem Bewusstsein feiern, wieder selbst über unser Schicksal entscheiden zu können“, lächelt Theocharis. „Ich bin ehrlich erstaunt, dass wir beim Verlust von 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht auch die Demokratie verloren haben. Vielleicht lag das an der symbolischen Verbundenheit mit dieser Staatsform, schließlich sind wir ihr Geburtsort.“

Im Mai 2010 wurde klar, dass Griechenland nach Jahrzehnten der Misswirtschaft am Boden lag mit einem viermal so großen Defizit als in der Eurozone zulässig. Seither versuchten EU, EZB und IWF einen Bankrott abzuwenden, indem sie für Athen drei Hilfsprogramme mit einem Kreditrahmen von 260 Milliarden Euro auflegten. Was an Geldern floss, ging sofort an die Gläubiger.

Verrottende Bücher

Und die Rettung hatte ihren Preis. Die an die Hilfe geknüpften Bedingungen waren hart, unpopulär und wirkten wie Strafmaßnahmen. Die Kreditgeber verlangten Gehalts- und Rentenkürzungen, Steuererhöhungen und Strukturreformen, viele davon lange überfällig. Prompt verhinderte die Haushalts-Zwangsjacke jedes Wachstum. Zu Anfang der Krise lagen die Gesamtschulden im Vergleich zur jährlichen Wirtschaftsleistung bei 120 Prozent, heute bei 180 Prozent, der höchste Wert in der EU.

Die Literaturgesellschaft Parnassos lässt in paradigmatischer Weise erkennen, wie mit der Krise umgegangen wurde: an der Oberfläche die Akzeptanz, darunter der Aderlass. Wegen des schrumpfenden Budgets mussten im Verein zwei Sicherheitsleute, zwei Empfangsmitarbeiter, zwei Putzkräfte und zwei Buchhalter entlassen werden. Bis heute kämpft Parnassos jeden Monat darum, seine Rechnungen bezahlen zu können. Wegen fehlender Mittel leidet die Büchersammlung des Vereins, eine der besten und ältesten in Griechenland. Im Untergeschoss des Parnassos-Gebäudes quellen dicke Schwarten aus übervollen Holzregalen. Die dünnen Buchrücken aus dem 18. und 19. Jahrhundert sind von Staub, Feuchtigkeit und herabfallendem Putz teilweise zerstört.

Leonidas Georgopoulos hätte sich nicht für die Rettung von Parnassos einsetzen müssen. Als Mitglied einer der größten Anwaltskanzleien Athens könnte er seinen Lebensabend genießen, doch zählt er zur großen Gruppe der Griechen, die wegen der Krise zueinanderfanden, um anderen zu helfen und die Gesellschaft zusammenzuhalten. „Wir haben so viele Niederlagen erlitten“, räsoniert Georgopoulous, „da wären andere Nationen längst verschwunden. Wir nicht.“

In Würde bestehen, wollte auch Elina Zeppou (30), die sich „Teilzeit-Tanzlehrerin“ nennt. „Vor der Krise habe ich an sechs Tagen abends als Kellnerin gearbeitet und tagsüber Tanzpädagogik studiert. 2010 war das plötzlich vorbei, weil alle in Panik gerieten und meine Arbeitsschichten gekürzt wurden. Ich hatte nichts zu verlieren und ging nach London, um weiterzustudieren. Aber dann verdreifachte Großbritannien die Studiengebühren, sodass ich zurück musste und mich wieder in Athen an einer Tanzschule einschrieb – für 350 Euro im Monat. Also bediene ich abends in einer Bar und stehe um acht Uhr morgens auf, um meinen Kurs zu besuchen oder manchmal als Tanzlehrerin zu arbeiten. Wenn ich zum Zahnarzt muss oder sonst irgendetwas dazwischenkommt, bin ich sofort am finanziellen Limit. Einmal wurde ich in der U-Bahn ohne Ticket erwischt und musste sagen: ‚Hören Sie, ich habe genau noch zwei Euro in der Tasche; das ist alles, was ich habe.‘ “

Pragmatiker Tsipras

Der Anteil extremer Armut in Griechenland ist von 8,9 Prozent im Jahr 2011 auf 15 Prozent im Jahr 2016 gestiegen, so die Athener Denkfabrik Dianeosis. Die Forscher fanden heraus, dass neben den Pensionären die Gruppe der 18- bis 29-jährigen Griechen, etwa eine Million Menschen, am schwersten von der Misere eines Jahrzehnts betroffen ist. Jeder Vierte hat seinen Job verloren oder nie einen gefunden.

Viele glauben, dass es mindestens ein Jahrzehnt dauert, bis sich die Nation den verlorenen Lebensstandard zurückerkämpft hat. Allein wegen der Auswanderung und einer seit Jahren rückläufigen Geburtenrate ist die Bevölkerung um drei Prozent geschrumpft. „So viele haben sich daran gewöhnt, arm zu sein. So viele sind von jeder Hoffnung ausgeschlossen worden“, sagt der Soziologe Konstantinos Tsoukalas. „Ja, wir haben als Teil der EU überlebt, aber wer weiß, wohin dieses Überleben führt? Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn Griechenland die EU verlassen hätte – und es war ganz knapp. Ich bezweifle, ob die Situation bei einem Grexit beherrschbar geblieben wäre.“

Mitten in der Rekord-Touristensaison dieses Sommers zitiert der griechische Unternehmerverband eine Untersuchung, die dem Land einen Rückgang an depressiver Stimmung bescheinigt. „Wir sollten den neuen Optimismus als Triebkraft des Wachstums nutzen, der Kreativität und Produktivität“, sagt Verbandspräsident Vassilis Apostolopoulos. „Wir wissen, dass wir uns am Anfang einer neuen kritischen Ära befinden. Das Ende des dritten Hilfsprogramms markiert nur einen symbolischen Abschluss. Vom 21. August an müssen wir an Wettbewerbsfähigkeit gewinnen und das Unternehmertum beleben.“

Niemand glaubt, dass Griechenland seine Schulden erfolgreich zurückzahlen kann. Zwar wurde vor Kurzem ein Deal öffentlich, der Athen die Möglichkeit einräumt, die Ausgaben für seinen 320-Milliarden-Euro-Schuldenberg um weitere zehn Jahre zu strecken. Das bringt den erforderlichen Spielraum, um die Wirtschaft weiter zu modernisieren. Doch wird das nicht ausreichen, soll eine weitere Krise vermieden werden. Alexis Tsipras, der früher die Sparpolitik leidenschaftlich verurteilte, wurde überraschend zum Wirtschaftspragmatiker. Er scheint bereit, die eingeschlagene Richtung zu halten, obwohl seine Syriza-Partei laut Umfragen weit hinter der konservativen Nea Dimokratia (ND) zurückliegt.

Konstantinos Tsoukalas hat derzeit mehr Angst um Europa als um Griechenland. Der Soziologe steht in einer Tradition linker Intellektueller, die leidenschaftlich an einen vereinten Kontinent glauben. „Würden wir nicht zu Europa gehören, hätten wir in diesem Land mehr Fanatismus, Gewalt und Armut als im Nahen Osten. Dürfen allerdings die Zwillinge Nationalismus und Populismus Europas Einheit weiter gefährden, kommt auch das Thema Grexit wieder auf den Tisch. Dessen bin ich sicher.“

Helena Smith ist Guardian-Korrespondentin in Griechenland

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Helena Smith | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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