Barry und Bin Laden

Autobiografie Über tausend Seiten ernsthafte Weitschweifigkeit: Barack Obamas „Ein verheißenes Land“
Ausgabe 48/2020
Während der Tötung Bin Ladens lief im Weißen Haus im Hintergrund ein Basketballspiel
Während der Tötung Bin Ladens lief im Weißen Haus im Hintergrund ein Basketballspiel

Foto: Mark Wilson/Getty Images

Liest man Barack Obamas neue Autobiografie in diesen Tagen, da Donald Trump ein letztes Mal die Zähne fletscht, drängt sich einmal mehr die Frage auf, wie ein und dasselbe Land zwei so gegensätzliche Männer zu seinen Präsidenten wählen konnte. Ganz oben auf der Liste der Unterschiede steht ihr Umgang mit Sprache und Fakten. Am Vorabend der Veröffentlichung von Obamas Buch feuerte Trump ein Stakkato an Twitter-Nachrichten ab, in denen er den Sieg bei einer Wahl verkündete, die er längst verloren hatte. Am anderen Ende der Skala steht Obamas Ein verheißenes Land (engl. Titel: A Promised Land): eine mehr als 1.000 Seiten lange, in elegantem Stil geschriebene Prosa, in der er auch seiner eigenen Motivation nachspürt.

Obama macht deutlich, dass er den krassen Gegensatz zwischen dem 44. und 45. Präsidenten der USA nicht für Zufall hält. Im Gegenteil: Allein die Tatsache, dass ein gebildeter, intelligenter, in keinerlei Skandale verwickelter schwarzer Mann im Weißen Haus saß, habe ausgereicht, um seine Antithese folgen zu lassen. Es ist sicher nicht das Hauptthema des Buches: Aber unter der Chronologie der Obama-Jahre – der geerbten Wirtschaftskrise, dem Kampf für bezahlbare Gesundheitsversorgung und der Neudefinition der Rolle der USA in der Welt – schwelt rassistisches Ressentiment, und seine orangefarbene Verkörperung rückt mit jedem Kapitel stärker in den Fokus.

Band zwei ist in Arbeit

Eigentlich wollte Obama – so schreibt er im Vorwort – die Geschichte seiner Präsidentschaft auf 500 Seiten in weniger als einem Jahr zu Papier zu bringen. Drei weitere Jahre später hat er nur einen Teil des Projekts geschafft. Ein verheißenes Land führt uns von der Kindheit Obamas bis zur Ermordung Osama bin Ladens im Mai 2011. Dabei geht er auf einige Ereignisse und Entscheidungen so detailliert ein, dass man sich fragen könnte, ob es vielleicht einen idealen Punkt irgendwo zwischen Trumps Herausposaunen und Obamas ernster Weitschweifigkeit gibt, zwischen der kompletten Leugnung von Fehlern und der nicht enden wollenden Überprüfung jedes einzelnen (Band zwei ist bereits in Arbeit).

Die Kindheit Obamas ist vielen bereits vertraut – aus seinen beiden früheren autobiografischen Werken. Dieses Mal erzählt er wenig über seine vier prägenden Jahre in Indonesien, sondern springt zu seiner Rückkehr nach Hawaii, wo er von da an bei seinen Großeltern mütterlicherseits lebte. Es folgen Reflexionen darüber, wie aus dem unbekümmerten Teenager Barry, der sich vor allem mit Basketball und Mädchen beschäftigte, ein ernsthafter Mann mit einer Bestimmung wurde – eine Verwandlung, von der der frühere Präsident sagt, dass sich seine Freunde aus der High School immer noch fragen: „Wie zum Teufel ist das passiert?“ Die Antwort hat zumindest teilweise damit zu tun, dass er sich in seiner eigenen Haut nicht wohlfühlte. Obama beschrieb sich selbst als jemanden, der „von überall und nirgends gleichzeitig herstammt, eine Kombination aus schlecht zusammenpassenden Teilen wie ein Schnabeltier oder irgendeine imaginäre Bestie“.

Sein Heilmittel fand Obama in Büchern. Alles begann mit einem Flohmarkt in Honolulu, den er mit einem Stapel gebrauchter Bücher verließ, von da an war er angefixt. Bücher wurden ihm Begleiter, Trost und Wegweiser. Wobei er einräumt, dass die Wahl seines Lesestoffes, wie bei wohl jedem Studenten, sehr unterschiedlichen Motiven folgte: Marx und Marcuse las er, um mit der „langbeinigen Sozialistin“ in seinem Studentenwohnheim reden zu können; Foucault und Woolf „für die himmlische Bisexuelle, die meistens Schwarz trug“. In den Redaktionen sind die Spürhunde sicher schon damit beauftragt, beide Frauen ausfindig zu machen.

Ein verheißenes Land erfüllt die wesentlichen Erwartungen an politische Autobiografien, es liefert reichlich Material, wie man vom Fahrersitz der Macht auf die Welt blickt. Etwa, wie viel Kraft es kostet, mit dem Jetlag zu kämpfen und gleichzeitig den Eindruck zu erwecken, man interessiere sich für die Reden anderer Weltpolitiker auf internationalen Gipfeltreffen.

Dann sind da die ermutigenden Details in Momenten von historischer Bedeutung, wie das Versagen des supersicheren Kommunikationssystems des Weißen Hauses, als Obama 2011 während einer Reise nach Brasilien seine erste Militärintervention in Libyen anordnen wollte. Am Ende begnügt sich der Präsident mit einem Mobiltelefon, das „vermutlich auch zum Pizzabestellen benutzt wurde“, um einem General in Washington verschlüsselt den Befehl zu übermitteln. Zwei Monate später ging es darum, die Militäraktion in Pakistan anzuordnen, bei der US-Spezialeinheiten bin Laden töteten. Die endgültige Entscheidung für den Einsatz traf der Präsident allein im Treaty Room des Weißen Hauses, während im Hintergrund ein Basketballspiel lief. Schlagzeilen machte die Autobiografie bereits damit, dass Joe Biden sich gegen die Aktion ausgesprochen hatte. Es hätte dem designierten Präsidenten sicher geschadet, wäre dies ein paar Wochen früher publik geworden. Jetzt bietet es eine gewisse Sicherheit dafür, dass Biden die US-Militärmacht eher mit Bedacht einsetzen wird.

Obamas Skizzen seiner Amtskollegen sind interessant, wenn auch frustrierend zurückhaltend. Den früheren britischen Premierminister David Cameron beschreibt er als urban und selbstbewusst, voll des „leichten Selbstvertrauens von jemandem, dem das Leben noch nie zu hart mitgespielt hat“. Wladimir Putin vergleicht er mit einem Parteichef aus der dunklen Zeit der „Chicago Machine Politics“ in den 1920er Jahren, die mit autoritärem Führungsstil und Korruption assoziiert wird, „nur mit Nuklearwaffen und einem UN-Sicherheitsrats-Veto“. Über Putins weicheren Schützling, den früheren russischen Staatspräsidenten Dmitri Medwedew erfährt man, dass er Deep-Purple-Fan ist und „eine gewisse ironische Distanz wahrte, so als wenn er mich wissen lassen wollte, dass er nicht alles glaubte, was ich sagte“.

Innenpolitisch kam der entscheidende Moment von Obamas erster Amtszeit 2010, als seine Bestrebungen dadurch behindert wurden, dass die Republikaner durch die für ihn katastrophalen Zwischenwahlen die Mehrheit im Repräsentantenhaus erlangten. Nicht nur die Niederlage überraschte Obama, sondern auch, wie weit Politiker*innen der Republikanischen Partei zu gehen bereit waren. Immerhin drohten sie die erste Zahlungsunfähigkeit in der Geschichte der USA an, um Obamas Gesetzgebung zu blockieren. Obama spürt darin etwas viel Hässlicheres als nur normale Politik: „eine emotionale, fast instinktive Reaktion auf meine Präsidentschaft, die nichts mit politischen oder ideologischen Differenzen zu tun hat“. Weiter erinnert er sich: „Es war, als wenn meine Präsenz im Weißem Haus eine tief sitzende Panik ausgelöst hätte, das Gefühl, dass die natürliche Ordnung gestört wurde“.

Trumps Existenz nahm Obama 2010 nur vage wahr, als der Immobilienunternehmer und Reality-Show-Moderator seine Hilfe dabei anbot, die durch die Bohrplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko verursachte Ölpest wieder in Ordnung zu bringen. Als Obama ein Staatsdinner in einem Zelt abhielt, ließ Trump wissen, dass er bereit sei, auf dem Gelände des Weißen Hauses „einen schönen Ballsaal“ zu bauen. Das Angebot wurde höflich abgelehnt. Als Trump fünf Jahre später seinen Präsidentschaftswahlkampf begann, zerriss er endgültig den Schleier, der den Rassismus, der der Obstruktionspolitik der Republikaner zugrunde lag, bisher verhüllt hatte. Trump baute seinen Wahlkampf auf der Verschwörungstheorie auf, Obama sei kein gebürtiger US-Amerikaner, sondern ein von islamistischen Extremisten gelenkter Eindringling. Dass Fox News über Trumps Possen berichtete, überraschte Obama nicht. Dass Sender wie ABC, NBC und CNN dem Aufrührer endlos Sendezeit widmeten, verärgert ihn offensichtlich noch immer. Die respektablen Medien hätten die rassistischen Verunglimpfungen zwar mit „höflicher Ungläubigkeit“ behandelt, aber „an keinem Punkt stellten sie einfach und geradeheraus klar, dass Trump log oder dass seine Verschwörungstheorie rassistisch war“. Diese unverdiente Rücksichtnahme trug wohl dazu bei, die Abwehrkräfte der US-Bürger*innen gegen die sich abzeichnende Bedrohung zu schwächen.

Info

A Promised Land von Barack Obama ist auf Deutsch unter dem Titel Ein verheißenes Land in Übersetzung von Sylvia Bieker u.v.m. im Penguin-Verlag erschienen (1.024 S., 42 €)

12 Monate für € 126 statt € 168

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Übersetzung aus dem Guardian : Carola Torti
Geschrieben von

Julian Borger | The Guardian

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