Mit 240 Hektar ist der im Bau befindliche Stadtteil „Seestadt Aspern“ am Ostrand von Wien eines der größten Stadtentwicklungsprojekte in Europa. Wenn das Viertel 2028 fertig ist, sollen dort 20.000 Menschen leben und genauso viele Arbeitsplätze entstanden sein. Das Viertel ist um einen künstlichen See herum angeordnet, die Hälfte der Fläche ist für den öffentlichen Raum vorgesehen. Beworben wird das Projekt als „Wiens urbanes Seeufer“. Dabei gehört die österreichische Hauptstadt bereits zu den Städten mit der höchsten Lebensqualität weltweit.
Familienfreundlichkeit ist Teil des Konzepts. Aber in der Seestadt geht es nicht nur um Familien. Das neue Viertel wurde gezielt mit einer Markenidentität geplant, die anderswo als politisch gelten könnte: Alle Straßen und öffentlichen Räume sind nach Frauen benannt. Es gibt unter anderem einen Hannah-Arendt-Platz, eine Janis-Joplin-Promenade, eine Ada-Lovelace-Straße und einen Madame-d’Ora-Park. Die offizielle Broschüre formuliert es so: „Aspern hat ein weibliches Gesicht.“ Ein kleines Gegengewicht zum Rest von Wien, in dem 3.750 Straßen nach Männern benannt sind. Sicher sind die Straßennamen nur ein Symbol. In der Seestadt werden Frauen und ihre Bedürfnisse aber auch darüber hinaus besonders berücksichtigt. Der Stadtteil verkörpert einen einzigartigen Planungsansatz, der Wiens Stadtentwicklung seit rund 30 Jahren prägt.
Gender-Mainstreaming steht für das Bestreben, Frauen und Männer in Politik, Gesetzgebung und Ressourcenverteilung gleichberechtigt zu berücksichtigen. 1985 erstmals vorgeschlagen, wurde der Ansatz zehn Jahre später als globale UN-Strategie zur Erreichung von Geschlechtergleichheit festgeschrieben. Zu diesem Zeitpunkt, also 1995, wurde bei der Stadtplanung Wiens bereits seit Jahren darauf geachtet. Seither konnten hier rund 60 gendersensitive Pilotprojekte umgesetzt werden, weitere 1.000 werden geprüft. Die „Seestadt“ ist eines der jüngsten. Aber wie hängen Bürgersteigbreite und Sitzbank-Design mit Gender zusammen? Beweist Wien, dass Gender-Mainstreaming funktionieren kann?
„Das Argument für Gender-Mainstreaming ist, dass die Gesellschaft dadurch fairer wird“, erklärt Eva Kail, Expertin für „Frauengerechtes Planen und Bauen“ beim Amt für strategische Planung der Stadt Wien. „Wenn man als öffentliche Verwaltung den Menschen gute Dienstleistungen anbieten will, die auf eine höhere Lebensqualität abzielen, muss man Gendergleichheit berücksichtigen.“
Kail ist eine der wichtigsten Expertinnen in ihrem Bereich weltweit. Der stadtplanerische Schwerpunkt auf Gender-Mainstreaming wurde angestoßen, als sie als junge Stadtplanerin Anfang der 1990er Jahre das erste Wiener Frauenbüro leitete. Im September 1991 zeigte eine von ihr mit organisierte Fotoausstellung einen Tag im Leben von acht verschiedenen Frauen und Mädchen – von einem kleinen Kind über eine Rollstuhlfahrerin bis hin zu einer aktiven Rentnerin.
Platz für den Kinderwagen
Dieses einfache Konzept machte eine Seite der Stadt sichtbar, die nur selten Aufmerksamkeit erhielt. Wie die meisten europäischen Städte damals wie heute wurde Wien von männlichen Städteplanern für Männer wie sie selbst konzipiert, die sich mit dem Auto oder dem öffentlichen Nahverkehr zu bestimmten Zeiten zwischen dem Zuhause und der Arbeit bewegen. Unbezahlte Arbeiten wie die Kinderbetreuung oder das Einkaufen, die meist von Frauen über den Tag hinweg in kurzen Wegen zu Fuß erledigt werden, blieben unberücksichtigt. Indem sie deren Bewegungen ignorierte, ließ die Stadtplanung Frauen praktisch außen vor. Kails Ausstellung war ein Überraschungserfolg und zog 4.000 Besucher an. Vor allem löste sie eine Diskussion aus: über Gegenden in der Stadt, in denen sich Frauen unsicher fühlten; darüber, wie sie von A nach B kamen und – allgemeiner – für wen die Stadt eigentlich da war.
Im Anschluss daran führte eine Briefbefragung des Frauenverbandes der regierenden Sozialdemokraten zu einer entscheidenden Entdeckung: Rund zwei Drittel der Autofahrten wurden von Männern unternommen, während zwei Drittel der zu Fuß zurückgelegten Wege Frauen zuzuordnen waren. „Das war ein echter Aha-Moment“, erinnert sich Kail. Zum ersten Mal war sie in der Lage, zu beweisen, dass die Erfahrung des Lebens in der Stadt für Frauen und Männer unterschiedlich aussah – und die der Frauen völlig übersehen wurde.
Als Leiterin des Frauenbüros, das sie „ein bisschen wie ein feministisches Utopia“ empfand, erhielt sie im April 1992 den Auftrag, das entstandene Interesse in konkrete Veränderungen umzuwandeln. Es war eine Zeit, in der Wien sehr schnell wuchs. Der Eiserne Vorhang war gefallen und die Regierung hatte sich zum Ziel gesetzt, jährlich 10.000 neue Wohnungen zu bauen. Aufträge wurden an Architektenbüros vergeben – aber in rund 30 Bewerbungsrunden wurde nicht eine Frau zur Einreichung von Entwürfen eingeladen. „Nur Männer definierten die neue Struktur der Stadt“, erinnert sich Kail. Das beschloss sie mit einem Sozialbauprojekt im Norden der Stadt zu ändern. Nur Architektinnen – die damals nur sechs Prozent der Berufsgruppe ausmachten – durften Entwürfe einreichen, und der Lebensalltag von Frauen sollte ein essenzielles Planungskriterium sein.
Das Ergebnis war die „Frauen-Werk-Stadt“, ein Komplex mit 357 Wohneinheiten, der von Architektinnen geplant und 1997 fertiggestellt wurde. Die weibliche Sicht prägt die Wohnsiedlung auf allen Ebenen: von Kinderwagen-Stellraum auf allen Etagen und weitläufigen Treppenhäusern, die die Interaktion mit den Nachbarn anregen sollen, über flexible Wohnungsgrundrisse und attraktive Nebenräume bis hin zur Höhe des Gebäudes, das niedrig genug sein sollte, um „die Straße im Blick“ haben zu können.
Das Projekt verlief nicht ohne Widerstände. Kail erinnert sich daran, wie sie eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe für den Verkehrsplan moderieren sollte. „Die erste Sitzung war schrecklich … die Männer akzeptierten mich überhaupt nicht als die Person, die das Sagen hat“, erzählt sie. Über die Jahrzehnte entwickelte sie ein Arsenal an Strategien, um ihre Ziele zu erreichen. Einige Kollegen gewann sie, indem sie Medienbeachtung oder interne Anerkennung für Pionierarbeit in Sachen Gender-Mainstreaming versprach. Andere ließen sich intellektuell dafür begeistern, von dieser innovativen Disziplin zu lernen.
Nachdem mit der „Frauen-Werk-Stadt“ der Beweis erbracht war, dass Gender-Mainstreaming funktioniert, sollte es ins Stadtzentrum getragen werden. Das dicht besiedelte Wiener Innenstadtviertel Mariahilf mit rund 28.000 Einwohnern wurde als Pilot-Viertel definiert und zwischen 2002 und 2006 angepasst. Eine Umfrage hatte etwa ergeben, dass 26 schlecht beleuchtete Stellen im Viertel Unbehagen auslösten. Dort wurde die Straßenbeleuchtung verbessert. Die Ampelschaltung wurde verändert, um Fußgängern und Fußgängerinnen Vorrang einzuräumen, und an neun Stellen wurden neue Sitzbänke platziert. Mehr als ein Kilometer Bürgersteig wurden verbreitert und fünf Bereiche komplett barrierefrei gestaltet, um Kinderwagen- und Rollstuhlnutzern sowie älteren Menschen das Leben zu erleichtern. Die Verbindung zwischen breiteren Bürgersteigen, Bänken und Gender mag nicht auf den ersten Blick einleuchten, letztlich gehe es aber um Chancen- und Zugangsgerechtigkeit, sagt Kail. Für eine ältere Person kann eine gut platzierte Bank entscheidend dafür sein, ob sie am Leben in der Stadt teilnimmt oder zu Hause bleibt.
Den Nichten soll’s gut gehen
Wolfgang Gerlich arbeitet bei der Beratungsagentur PlanSinn, die am Seestadt-Projekt beteiligt ist. Manchmal wird er eingeschaltet, um für Gender-Mainstreaming zu plädieren, wenn die Stimme eines Mannes mehr Autorität zu haben scheint. Er erinnert sich, wie er Anfang der 2000er einen Workshop moderierte, bei dem eine deutsche feministische Planungsexpertin und Männer aus dem Bauamt aufeinandertrafen. „Es war ein gigantischer, sehr wertvoller Misserfolg“, berichtet er. „Das Ganze hat nichts erreicht außer Irritation. Danach haben wir unsere Strategie komplett verändert.“ Ein inklusiver Ansatz musste her. „Zum Beispiel begannen wir, Kritiker zu fragen, was sie sich für ihre Tochter oder Nichte wünschen würden“, erklärt Gerlich. Laut ihm gibt es einen Teil der Wiener Bevölkerung – vor allem männliche Autofahrer –, der Gender-Mainstreaming ablehnt. Dahinter stecke die Angst, etwas einzubüßen. Lebensqualität in der Stadt, aber auch Macht. „Natürlich sind die damit nicht glücklich“, erklärt er.
26 Jahre später ist es in Wien heute relativ normal, das Stadtleben durch eine Gender-Linse zu betrachten – und im Jahr 2008 beurteilte das „Programm der Vereinten Nationen für menschliche Siedlungen“ die Stadtplanungsstrategie Wiens als mustergültig. Erstaunlich ist, dass andere Städte erst seit Kurzem versuchen, Wiens Beispiel zu folgen. Berlin, Barcelona und Kopenhagen haben begonnen, Gender-Mainstreaming in ihre Stadtplanung einzubeziehen. Stockholm führte 2013 eine gendersensitive Schneeräumung ein: Die von Frauen am meisten benutzten Routen – wie Fußwege um Kindertagesstätten herum – werden morgens als Erstes geräumt. Dass diese Politik für lange Verzögerungen in anderen Bereichen verantwortlich gemacht wurde, zeigt, wie groß die Skepsis gegenüber den Strategien für Gendergleichheit ist – oder sogar gegenüber der Notwendigkeit dafür generell. Dabei ist die größte Gefahr für die Wohnqualität das Wachstum der Stadt. Bis 2025 braucht Wien 130.000 neue Wohnungen. Die angespannte Haushaltslage könnte Kompromisse nötig machen, unter anderem in Sachen Gendersensitivität.
„Dieser Trend hat schon begonnen“, beobachtet Sabrina Riss, Architektin und Dozentin an der Universität Wien. „Neue, private Neubauten kommen an die hohen, für den sozialen Wohnungsbau vorgeschriebenen Standards nicht heran“, erklärt sie. „Die verkaufen Wohnungen mit schlechten Grundrissen, kümmern sich nicht darum, ob die Treppenhäuser Tageslicht haben oder die Kommunikation zwischen den Nachbarn gefördert wird. Alle diese Errungenschaften fallen hinten runter.“ Die Geschlechtergleichheit konkurriert mit anderen Schwierigkeiten bei der Stadtplanung.
Die „Seestadt Aspern“ fühlt sich nicht wie ein „feministisches Utopia“ an, wie Eva Kail einst das Frauenbüro beschrieb. Stattdessen wirkt sie mit ihrem Zusammenhalt und den lebendigen öffentlichen Räumen schlicht wie ein sehr gut geplantes Stadtviertel. Genau hieran zeige sich die Bedeutung von Gender-Mainstreaming, sagt Kail. Aber auch die Schwierigkeit, dafür zu argumentieren: „Wenn es nicht umgesetzt würde, würden wir es merken. Aber solange es da ist, sehen wir es nicht. Ist es wirklich akzeptiert, wird es unsichtbar.“
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