„Build from Here“: Wolfgang Tillmans tauscht seine Kamera gegen das Mikrofon
Musik Der Turner-Preis-Gewinner spielte schon in seiner Jugend in Bands. Aber erst Frank Ocean brachte Wolfgang Tillmans dazu, mit seiner Musik an die breite Öffentlichkeit zu gehen. Ist sein Album „Build from Here“ Pop oder Kunst?
Der Turner-Preis-Träger Wolfgang Tillmans macht wieder Musik
Foto: Mustafah Abdulaziz
Musik zu veröffentlichen, habe er nie vorgehabt. Geschweige denn sie live zu performen, sagt Wolfgang Tillmans, während eines Zoom-Calls aus seiner Berliner Heimat. Der Künstler spricht über sein zweites Album Build from Here. Dort ist auch ein älteres Stück zu finden: Der Song Grüne Linienwurde schon 2018 während eines Auftritts seiner Band Fragile auf Fire Island aufgezeichnet.
Im Gespräch wird deutlich, warum er seine Musik erst nie veröffentlichen wollte. Als junger Mann reiste er nach Großbritannien, zunächst eigentlich um sein Englisch zu verbessern. Sofort verzauberte ihn die Romantik der britischen Popmusik: „Die britische Popmusik war damals extrem vielfältig“, schwärmt er. „Es wurden verschie
sche Popmusik war damals extrem vielfältig“, schwärmt er. „Es wurden verschiedene Stilrichtungen kombiniert. Vieles passierte gleichzeitig. Diese neue Art Pop zu denken war wirklich befreiend und ich hatte das Gefühl, dass alles möglich ist.“Als er in seine Heimatstadt Remscheid zurückkehrte, gründete er gleich ein Synthesizer-Duo. Doch sein Bandkollege „verschwand von einem Tag auf den anderen“. Wegen Beziehungsproblemen verließ er die Stadt. Während seines Studiums in Bournemouth begann dann Tillmans in einer Band zu singen. Über den einzigen Auftritt der Band sagt der Künstler: „Das war eine Katastrophe. Wir hatten zu wenig geprobt, unsere Monitore fielen aus, ich konnte mich selbst nicht hören und traf die Töne nicht. Das war einfach schrecklich. So etwas wollte ich nie wieder erleben.“Trotzdem gibt es wohl keinen Turner-Preis-Gewinner, dessen Arbeit so sehr mit Pop in Verbindung gebracht wird. Der 55-Jährige nutzte Popsong-Titel für seine Arbeiten, legte in Clubs und auf Festivals auf und stellte seine Fotografien im Berghain aus. Wolfgang Tillmans ist, wie er stolz erzählt, die einzige Person, die dort jemals fotografieren durfte.„Ich habe dokumentiert, was ich gesehen habe“Im Gespräch wird klar, wie sehr Acid House und dessen Einfluss auf die deutsche Jugendkultur die Arbeit des Fotografen geprägt haben. „Ohne Acid House wäre ich nie auf die Idee gekommen, eine Kamera in die Hand zu nehmen“, sagt Tillmans, der in Berlin und London lebt und arbeitet. Betrachtet man seine Bilder 30 Jahre später, kann man noch immer die Atmosphäre spüren, die der Künstler in den 90er Jahren auf deutschen Tanzflächen einfing. „Ich glaube, der Schlüssel war, dass ich einfach mitgefeiert habe“, sagt er. „Ich bin nie nur zum Fotografieren da gewesen, sondern habe dokumentiert, was ich gesehen habe.“Er möge es nicht, mit der Kamera gesehen zu werden, und oft sei es ihm peinlich, Fremde zu fotografieren, erzählt er weiter. „Wenn ich jemanden nicht fotografieren kann, nur weil mir es peinlich wird, spüre ich einen gewissen Leidensdruck. Erst wenn der Druck groß genug ist, kann ich mich aufraffen und mich dazu zwingen, ein Foto zu machen.“Offenbar hatte er es nicht eilig, zur Musik zurückzukehren. Als der Künstler Mitte der 2010er Jahre wieder anfing elektronische Musik zu produzieren – unter anderem inspiriert durch den Sound vom US-amerikanischen Label Fade to Mind, das Künstler:innen wie Kelela, Kingdom und Dawn Richard unter Vertrag hatte – entschied er zunächst die Tracks für sich zu behalten. Lediglich Freunden spielte der Künstler sie gelegentlich vor. Einer dieser Freunde war Frank Ocean, der vorhatte, seine Songs irgendwann mal zu samplen. Schließlich nutzte Ocean einen Track sogar komplett – für das Intro und Outro seines 2016 erschienenen Albums Endless.Eingebetteter MedieninhaltVon all dem wusste Tillmans bis zum Tag der Veröffentlichung nichts. „Der Song hat dann natürlich sehr viel Aufmerksamkeit bekommen“, erklärt Tillmans. „Dass ich nicht besonders selbstbewusst war, was meine Musik anging, war aber eigentlich kein Problem. Da hat niemand gefragt: Warum macht der denn Musik?“. Ziemlich natürlich habe es sich sogar angefühlt.Eine Reihe von EPs folgte. So erschien 2016 die EP 2016/1986, die einige Elemente des Synthpop-Duos aus seiner Jugend aufgriff. Das Debütalbum Moon in Earthlight erschien zur gleichen Zeit und teilt seinen Namen mit einer Ausstellung des Fotografen aus dem Jahr 2021.Für Wolfgang Tillmans war Fotografie nie nur SelbstzweckZwar ist Tillmans nicht der einzige visuelle Künstler, der sich in der Musikbranche versucht. Im Vergleich dazu erhielt er aber viel Zuspruch und Unterstützung aus der Szene. So gibt es neben dem Feature auf Frank Oceans Album zahlreiche Remixes seiner Songs von namhaften DJs wie Honey Dijon, Roman Flügel, Total Freedom und Daniel Wang. Build from Here macht deutlich, weshalb seine Musik so viel positive Aufmerksamkeit bekommt. Geprägt von traurig-melancholischen Melodien und treibenden elektronischen Sounds, verorten sich die Songs irgendwo zwischen Synthpop und Clubmusik. Viele Alltagsklänge und Field Recordings sind in seiner Musik präsent, die er selbst als „Audiofotografie“ bezeichnet.„Fotografie war für mich nie ein Selbstzweck“, berichtet er. „Ich verstehe sie eher als Werkzeug, um das Gefühl, das ein Objekt in mir erzeugt, zu beschreiben. Wenn ich mich von etwas berührt fühle, will ich ein Bild davon machen, um darüber zu sprechen. Auch von Klängen fühle ich mich manchmal angezogen. So habe ich in den 2010er Jahren begonnen, mehr Dinge aufzuzeichnen und eine Art akustischer Poesie in ihnen zu sehen.“Oft habe er beobachtet, dass Musiker:innen sagen: „Komm, wir machen noch einen Take“. Bei Fotografie funktioniere das nicht: „Selbst Dinge, die ich im Studio shoote, kann ich nicht am nächsten Tag nochmal fotografieren. Es gibt dabei ein paar Faktoren, die man nicht einkalkulieren kann. Ich glaube, darum geht es bei der Arbeit mit Sound und Musik: Dass man, genau wie bei visueller Arbeit, möglichst viel unverfälscht lässt, um die ursprüngliche Energie einfangen zu können.“ Auf der anderen Seite gehe es aber auch darum, Dinge technisch einzurahmen. Dabei könne man bewusst mit diesem Spiel zwischen Zufall und Kontrolle umgehen.Vielen Werken von visuellen Künstler:innen, die sich im Pop versuchen, haftet eine bestimmte archaische Ironie an. Man denke nur an Martin Creed, der untermalt von einer chaotischen Indie-Kreation „fuck off“ schreit. Oder auch an David Shrigleys bizarre Rock-Pop Nummer Problem in Brighton. Diese Ironie findet sich bei Tillmans nicht. „Schon aus Respekt vor anderen Musiker:innen würde ich niemals etwas veröffentlichen, was nicht wirklich gut, sondern nur ironisch gemeint ist“, sagt er. „Viele visuelle Künstler haben irgendwann einen Rockstar-Moment und probieren alte College-Träume wiederzubeleben“. Das sei bei ihm anders. „Ich halte übrigens Blue Monday von New Order für eines der größten Kunstwerke des 20. Jahrhunderts. Und zwar nicht nur im Bereich von Musik oder Klangkunst, sondern insgesamt.“Unterrepräsentierter Kunst eine Bühne gebenDie aktuelle Ausstellung des Künstlers vereint Kunst und Musik. 2014 eröffnete er in seiner Berliner Galerie Between Bridges einen „playback room“ und widmete so den Pionieren des Pre-Acid-House-Samplings Colourbox eine Ausstellung. Fortgeführt wurde diese in München und im Modern Tate in London.„Mit Between Bridges haben wir schon immer versucht, eine Bühne für Kunst zu schaffen, die sonst wenig Beachtung findet. Häufig gerät Kunst in Vergessenheit, wenn Auflagen nicht limitiert werden. Kunst wird weniger wertgeschätzt, wenn sie nicht teuer ist. Man denke nur an die Colourbox-Aufnahmen. Das waren geniale Kunstwerke, nicht nur die Cover-Art, sondern auch die Sounds. Aber nur weil sie zehn Pfund kosten, wird ihnen kein Wert eingeräumt.“Was die Zukunft seiner eigenen Musik betrifft, ist er sich noch unsicher. Und das, obwohl das Auffälligste an Build from Here der enthaltene Optimismus für die Zukunft ist. Dieser ist überall zu spüren: vom beatlosen, ruhigen Titeltrack über den Moroder-esken Sound von We Are Not Going Back bis hin zum motorischen New-Wave-Klang von French Lesson. In diesem wird mantraartig wiederholt: „supportons lendemain“ – Lasst uns das Morgen überstehen.Grundlegender OptimismusFaszinierend ist auch, was Tillmans über den letzten Teil seines Buches A Reader sagt. Denn dieser scheint geradezu zerfressen von Wut auf den Brexit, die Popularität Trumps, den Aufstieg der AfD und zunehmende Angriffe auf LGBTQ+-Rechte zu sein.Trotzdem behauptet der Künstler, von Natur aus optimistisch zu sein. Aber nicht auf naive Art und Weise, man müsse realistisch bleiben. Die Widrigkeiten, mit denen frühere Generationen konfrontiert waren, seien mindestens genauso vielfältig und belastend gewesen, wie das, womit sich die Leute heute beschäftigen müssten. „Die Kämpfe, die die früheren Generationen für uns ausgetragen haben, haben dazu geführt, dass wir heute viele bürgerliche Freiheiten genießen können. Ich möchte nicht mit ihnen tauschen. Auch deshalb bleibe ich grundlegend optimistisch.“Eine ähnliche Einstellung prägte Tillmans Arbeit, während er die deutsche Clubszene in der Entstehungszeit von Acid House fotografierte. „Die frühen 1990er waren im Rückblick auch nicht ausschließlich durch den Frieden nach dem Kalten Krieg geprägt. Der Krieg in Jugoslawien tobte. Auch wirtschaftlich gab es viele Umbrüche. Es herrschte Optimismus, aber eine Art von düsterem, nüchternen Optimismus. Da gab es weniger Euphorie, als viel mehr eine aufgeregte Sorge vor der Zukunft.“Eingebetteter Medieninhalt
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