Das war Evos Verbrechen

Bolivien Was der Staatsstreich gegen Präsident Morales für Indigene wie mich bedeutet
Ausgabe 47/2019
Unterstützer von Evo Morales bei einer Demonstration in Bolivien Mitte November
Unterstützer von Evo Morales bei einer Demonstration in Bolivien Mitte November

Foto: Ronaldo Schemidt/AFP

Evo Morales ist mehr als der erste indigene Präsident seines Landes. Als mit ihm 2006 ein einfacher Coca-Bauer aus der ethnischen Gruppe der Aymara in das höchste Staatsamt aufstieg, traten die indigenen Völker als innovative Kräfte der Geschichte hervor. Mit ihnen entstanden indigene Visionen von Sozialismus und von den Werten der „Pachamama“, der andischen Mutter der Erde. Morales steht für fünf Jahrhunderte Entbehrung der Indigenen auf der Südhalbkugel. Der Putsch gegen ihn ist auch ein Putsch gegen indigene Menschen. Morales wird jetzt von Rechten wie auch von Linken auf sein Versagen hingewiesen. Aber waren es nicht die von ihm errungenen Siege, die den Gegenschlag auslösten?

Morales und seine Partei, der von Indigenen geführte Movimiento al Socialismo (MAS), verstaatlichte nicht nur zentrale Industrien, man steuerte mit mutigen Sozialausgaben auch extremer Armut entgegen, die um mehr als die Hälfte zurückging. Es gelang, den Gini-Index des Landes, der die ungleiche Verteilung von Einkommen misst, in der Regierungszeit von Morales um 19 Prozent zu senken. Dadurch lebt eine aus Indigenen bestehende Bevölkerungsmehrheit zum ersten Mal in ihrem Leben nicht in Armut.

Was ihnen zugutekam, war jedoch nicht nur ökonomischer Natur. Bolivien gelang auch bei indigenen Rechten ein enormer Sprung nach vorn. Statt marginalisiert zu sein, wurden indigene Kulturen vollends in ein plurinationales Staatsmodell eingebunden. Das Konzept des Buen Vivir stand für ein harmonisches Zusammenleben untereinander und mit der Natur. Es wurde in die Verfassung geschrieben und so zum Maßstab für mögliche Verfassungsreformen. Die indigene, mehrere Farben zeigende Fahne Wiphala wurde zur zweiten Landesflagge, neben Spanisch gelten heute 36 indigene Sprachen als offizielle Nationalsprachen. Der renommierte Maori-Jurist Moana Jackson nannte die bolivianische Magna Charta von 2009 ein Dokument, „das dem Geiste einer indigenen Kaupapa (Gemeinschaftsvision, die Red.) entspringt“.

Das indigen-sozialistische Projekt hat erreicht, was der Neoliberalismus nie schaffen wird: Reichtum so an die ärmsten Teile der Gesellschaft zu vergeben, dass Marginalisierung unterbleibt. Unter Morales hat sich Bolivien von der Demütigung als Ressourcenkolonie emanzipiert. Bis zum Staatsstreich vom 10. November wurde alles versucht, damit die großen Vorkommen an Lithium, das man für Elektroautos benötigt, weiter durch einen Staatsbetrieb ausgebeutet werden (s. Glossar). Seit Morales entmachtet ist, schießen die Aktien des Elektroautokonzerns Tesla in den Himmel. Bolivien hat Staaten wie den USA eine Lektion erteilt, als es den Weg eines Ressourcen-Nationalismus eingeschlagen hat, um den Gewinn in der Gesellschaft neu zu verteilen – das war Evos Verbrechen.

„Meine Sünde war, indigen, links und antiimperialistisch zu sein“, so Evo Morales im mexikanischen Exil. Die Frau, die ihn ersetzt, Jeanine Áñez, scheint diese Ansicht zu teilen: „Ich träume von einem Bolivien, das frei ist von satanischen indigenen Riten!“, tweetete die Senatorin vom liberalkonservativen Movimiento Demócrata Social (MDS) vor Jahren. „Die Stadt ist nichts für die Indianer. Sie sollten im Hochland bleiben!!!“ Besser lässt sich die restaurative Inbrunst der Rechten wohl kaum auf den Punkt bringen.

Die Bibel kehrt zurück

Nach Evos erzwungener Emigration erklärte sich Áñez mit einer überdimensionierten Bibel in der Hand zur Übergangspräsidentin, obwohl sie kein Mandat des Senats hat. Neben ihr stand Luis Fernando Camacho, ein Mitglied der christlichen Rechtskonservativen, der den Präsidentenpalast mit einer Flagge in der einen und gleichsam einer Bibel in der anderen Hand stürmte und rief: „Christus kehrt in die Regierung zurück! Pachamama kommt nie wieder! Bolivien unterstützt Christus!“

In Gegenden, wo die Opposition am stärksten ist, wurden Wiphala-Flaggen als Symbol des indigenen Stolzes verbrannt. Polizisten trennten die aufgenähten Fahnen von ihren Uniformen ab und taten nichts, wenn die Häuser von MAS-Mitgliedern abgefackelt wurden. Auch bei Evo Morales wurde geplündert. Maskierte begannen als MAS-Unterstützer Verdächtigte oder einfach nur Indigene zusammenzutreiben und auf Lastwagen zu verladen. Dennoch haben die Bewegungen, die Morales an die Macht brachten, Mut und Kraft, auf die Straße zu gehen, um die indigene Revolution zu verteidigen.

Inmitten des Chaos hat das Land seit der umstrittenen Präsidentenwahl am 20. Oktober ein gegen Indigene gerichteter rassistischer Hass erfasst. Während linke Kritiker Morales in paradoxer Weise die Schuld am Putsch geben, fehlen bisher schlüssige Beweise für Wahlbetrug. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zitiert „Unregelmäßigkeiten“, ohne sie zu belegen. Ein Bericht des Center for Economic and Policy Research dagegen fand keine Hinweise auf ein manipuliertes Ergebnis. Um zu deeskalieren, stimmte Morales Neuwahlen zu, doch wurde ihm da schon durch das Militär die Pistole auf die Brust gesetzt. War Evos 13-jährige Regierungszeit zu lang? Nach fünf Jahrhunderten Kolonialherrschaft lässt sich das für den ersten indigenen Präsidenten wahrlich nicht sagen. „Wir werden zurückkommen“, versichert Morales und zitiert einen indigenen Widerständler aus dem 18. Jahrhundert: „Es werden Millionen von uns sein, wie Tupac Amaru II. gesagt hat.“

Nick Estes gehört zum Sioux-Stamm Lower Brulé, der im US-Bundesstaat South Dakota lebt. Er ist als Professor für Amerikastudien an der University of New Mexico tätig

Die Stunde des Lithiums

Ressourcen Man kann mit vollem Recht von einem Rohstoff der Zukunft sprechen, denn das Leuchtmetall Lithium wird gebraucht, um Lithium-Ionen-Batterien herzustellen, die wiederum für Hersteller von Elektrofahrzeugen wie den US-Konzern Tesla und andere unverzichtbar sind.

Drei Staaten in Südamerika verfügen über relevante Vorkommen – neben Argentinien und Chile auch Bolivien (auf der Karte markiert) mit einem nachgewiesenen Lithium-Reservoir von 9,1 Millionen Tonnen. Gewonnen wird es aus dem gut 40 Quadratkilometer großen Salzsee Salar de Uyuni im Süden. Sobald mitten in diesem Gewässer eine industrielle Produktionsanlage errichtet ist, wird mit einem Ausstoß von 15.000 Tonnen im Jahr gerechnet. Wie diese Ressourcen ausgebeutet werden und dem Land von Nutzen sein können, hatte Präsident Evo Morales seit Jahren zur Chefsache erklärt. Ihm schwebte eine eigene Wertschöpfungskette vom Rohstoff bis zur Batterie vor. Dabei war Kooperation mit dem Ausland erwünscht, doch sollte der bolivianische Staat stets der maßgebende Akteur bleiben.

Im Vorjahr erhielt die deutsche Firma ACI Systems aus Baden-Württemberg den Zuschlag für ein Joint Venture, während andere Interessenten leer ausgingen. Morales wollte an der nationalen Souveränität über die Lithium-Produktion keine Abstriche machen. Vieles spricht dafür, dass er eine vierte Amtszeit auch deshalb angestrebt hat

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Nick Estes | The Guardian

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