Demokratie braucht Drama

Europawahl Am 26. Mai wird Migration nicht mehr das Hauptthema sein. Trotzdem steht eine aufregende Wahl bevor
Ausgabe 17/2019
Eine Ausgabe der „Magyar Hang“, einer konservativen, ungarischen Tageszeitung, gegründet von Journalisten, die ihren Job im Zuge der Medienreform der Regierung verloren
Eine Ausgabe der „Magyar Hang“, einer konservativen, ungarischen Tageszeitung, gegründet von Journalisten, die ihren Job im Zuge der Medienreform der Regierung verloren

Foto: Chris McGrath/Getty Images

D emokratie braucht Drama – und Wahlen sind eine Art Therapiesitzung, in der die Wähler mit den schlimmsten Ängsten konfrontiert werden – Krieg, demografischer Kollaps, Rezession, Umweltkatastrophen. Zugleich versuchen Wahlkämpfer zu zeigen, dass sie dies alles noch verhindern können. Je näher Wahlen rückten, so Alexis de Tocqueville während seiner Reisen durch die USA im 19. Jahrhundert, desto lebhafter gerieten Agitation und Intrigen: „Die gesamte Nation verfällt in einen fieberhaften Zustand. Doch sobald es vorbei ist, wird alles ruhiger, und der ausgetretene Fluss kehrt ruhig in sein Bette zurück.“

Wenn dies zutrifft, dann verwandelt sich die EU gerade in eine echte Demokratie. Zum ersten Mal bieten die Wahlen zum EU-Parlament am 26. Mai die Dramen, die bisher nationalen Bühnen vorbehalten waren. Vier Wochen vor der Wahl teilt eine Mehrheit der Europäer das Gefühl, dass etwas Wichtiges passieren wird – und dass, wer es nicht für nötig hält, wählen zu gehen, in der Hölle einen Sonderplatz sicher hat.

Die Politiker haben es zwar geschafft, eine Mehrzahl davon zu überzeugen, dass Europa am Rande einer Katastrophe steht, nicht aber davon, dass sie es in der Hand haben, diese zu verhindern. Die Wut der Gelbwesten wird vielerorts geteilt, doch taugt dieses Votum nicht zur Wiederholung des Brexit-Referendums: denn keine große populistische Partei plädiert heute noch offen dafür, die EU oder den Euro zu verlassen. Deshalb werden diese Wahlen ebenso wenig eine Wiederholung der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen von 2017 bringen.

Eine neue Umfrage der Denkfabrik European Council on Foreign Relations und des Instituts YouGov zeigt, dass Europa nicht streng in Pro-Europäer und Nationalisten gespalten ist. Vielmehr gebe es vier verschiedene Gruppen: erstens die „Verzweiflungstäter“, eine Kombination aus „denen, die das Ende der Welt fürchten“, und „denen, die das Ende des Monats fürchten“. Sie sind überzeugt: Sowohl die EU als auch die Nationalstaaten sind am Ende. In vielen Staaten stellen sie zwar die Mehrheit, nicht aber die Gruppe der wahrscheinlichsten Wähler. Zweitens die „Die Dinge stehen besser, als du denkst“-Gruppe: Sie glaubt, dass sowohl die EU als auch die Nationalstaaten im Grunde funktionieren. Drittens die begeisterten Brüsselianer, die zwar die EU für voll funktionstüchtig halten, ihre nationalen Regierungen aber nicht. Und viertens eine Minderheit, die die EU für das Problem und den Nationalstaat für die Lösung hält.

Pro-Europäer haben Angst, dass diese Polarisierung den Rechtspopulisten in die Hände spielen wird und Ungarns Premier Viktor Orbán es schaffen könnte, die Wahl zu einem Referendum über das Scheitern Brüssels im Umgang mit der Zuwanderung zu machen. Aber diese Angst ist überzogen.

Orbáns Plan, die Wahl in ein Referendum über die Migration zu verwandeln, wird scheitern. Auch wenn viele sich weiterhin wegen der Einwanderung sorgen, ist das in den meisten Ländern nicht das Hauptanliegen. Orbáns Botschaft verfing 2015, weil Menschen, die in ihrem ganzen Leben noch keinen einzigen Geflohenen gesehen hatten, mit TV-Bildern von Tausenden von Leuten konfrontiert wurden, die die Grenzen zur EU passierten. Das ist vorbei. Die Zahl illegaler Migranten, die 2017 in die EU kamen, gleicht der durchschnittlichen Zahl an Touristen, die Athen im vergangenen August an einem einzigen Tag besuchten. Selbst in Zentraleuropa hat das Thema seine zentrale Rolle verloren. Die Umfrage zeigt: Polen, Ungarn und Rumänen treibt heute mehr die Korruption ihrer Regierungen um.

2019 unterscheidet sich von 2015 aber auch deshalb, weil sich keine große Partei mehr für eine Politik der offenen Grenzen einsetzt. „Eine Grenze bedeutet Freiheit in Sicherheit“, schrieb Emmanuel Macron in seinem Brief an die Europäer. Das ist der neue Konsens unter Europas Liberalen: Eine gut geschützte Grenze sei wie „ein Impfstoff gegen die Epidemie der Mauern“, um den Denker Régis Debray zu zitieren.

Zudem wird Orbán scheitern, weil die Menschen in Zentral- und teils Südeuropa sich heute mehr Sorgen machen, weil so viele das Land verlassen, und nicht, weil zu viele kommen. Geschätzte 3,4 Millionen Rumänen haben ihr Land in den acht Jahren nach dem EU-Beitritt 2007 in Richtung Westeuropa verlassen. Die Zahl der Ungarn, die seit Orbáns Regierungsantritt emigriert sind, liegt mittlerweile höher als die Zahl derer, die nach der Niederschlagung des Aufstandes von 1956 gingen. Dass Rechtspopulisten regieren, hat das Bedürfnis nach Emigration in Zentraleuropa nur noch verstärkt. In diesen alternden Gesellschaften geht die Angst vor dem Tag um, an dem die letzte junge Ärztin und der letzte junge Krankenpfleger ihre Koffer packen.

Die für die EU daraus resultierende Herausforderung ist die folgende: Was kann dagegen getan werden, dass die Mobilität in Europa eine Einbahnstraße von Osten nach Westen ist? Wie können zentraleuropäische Gesellschaften für ihre Investitionen in die Ausbildung ihrer Bürger, die nach Deutschland oder Frankreich auswandern, kompensiert werden? Über derlei hört man von Rechtspopulisten kein Wort.

Ivan Krastev leitet des Centre for Liberal Strategies in Sofia, ist Mitglied des European Council on Foreign Relations und publizierte 2017 den Essay Europadämmerung

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Ivan Krastev | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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