Die unglücklichen Kinder der Anderen

Erziehung Was haben Bücher über strenge Mütter und Teenie-Erziehungs-Dokus gemeinsam? Ihren Erfolg verdanken sie demselben Prinzip: Man will anderen Eltern beim Scheitern zuschauen

Während die Bücher, die alle Jahre wieder zu einer Sensation hochgehypet werden, meist eher selten interessant sind, sind die Gründe, aus denen sie ihre enorme Aufmerksamkeit erhalten, es oft umso mehr. Da ich an einer Krankheit namens Ärgerlichewörteritis leide, kann ich leider nicht den Ausdruck Zeitgeist bemühen, um das Phänomen zu erklären, welches Bridget Jones 1996 zu einem (verdienten) Riesenerfolg machte und Eat Pray Love zehn Jahre später zu einem ähnlichen (wenngleich unverdienten) Ave Maria auf den Lippen von Verlegern weltweit.

Glücklicherweise muss ich das aber auch gar nicht, denn die Gründe lassen sich doch ziemlich einfach darlegen, ohne auf Werbesprech zurückzugreifen: Bridget Jones spiegelte die leidliche Phase des Feminismus, in welcher die Frauen sich in den 1990ern gefangen fanden, als sie zwar angehalten waren, Karriere zu machen, als ultimatives Ziel aber weiterhin die Heirat galt. Eat Pray Love seinerseits brachte die erste Dekade des gegenwärtigen Jahrhunderts auf den Punkt, als "Yoga" als Hindu-Begriff für "ichbezogene Dehnübungen" neuinterpretiert wurde und "bio" für "teuren Selbstrespekt" stand, statt für "knorrige Kartoffeln, die ein bärtiger Mann am Straßenrand verkauft".

Was uns zu Amy Chuas Battle Hymn of the Tiger Mum (deutsch: Die Muttter des Erfolgs) führt. Das Buch ist ohne Zweifel ein verlegerisches Phänomen, wenn man mit "Phänomen" meint, dass die gigantische Publicity um das Buch nicht vollkommen jeden Zusammenhang mit den tatsächlichen Verkaufszahlen entbehrt. Immerhin belegte es diese Woche Platz 5 in den Amazon-Verkaufscharts, was Chuas Dauerpräsenz im amerikanischen Fernsehen beinahe schon wieder rechtfertigt.

Erwartungsgemäße Schelte

Sie haben inzwischen wahrscheinlich auch schon von der Litanei der Härte gehört, die Chua ihren Kindern im Streben zu Höchstleistungen auferlegte: Keine Übernachtungen bei Freunden, keine Schulaufführungen, nur Bestnoten. Mama Chua ist dafür gebührend – und erwartungsgemäß – gescholten worden. Doch das Buch verkauft und verkauft und verkauft sich.

Im New York Magazine vertrat Po Bronson die These, die "amerikanischen Leser der Geschichte der Tigermutter wollten nicht ihre grausame Kälte nachahmen." Vielmehr seien sie "auf den Erfolg ihrer Töchter aus". Da aber eine von Chuas Töchtern dazu getrieben wurde, vor Unglück in ihr Klavier zu beißen, käme es wohl einem Glücksspiel gleich, den Traktat als Erziehungsratgeber zu lesen. Stattdessen ist die Tigermutter eindeutig als Teil eines größeren Trends zu begreifen – und den würde ich "Erziehungspornographie" nennen.

Chua würde sich sicherlich entrüsten, überhaupt im selben Absatz genannt zu werden wie die folgenden Fernsehshows, aber man kann sich – wie ihre Töchter ihr vielleicht bestätigen können – seine Verwandtschaft nicht immer aussuchen und ihr Buch gehört eindeutig in die Familie der folgenden Sendungen: In Amerika sind die bei weitem beliebtesten Themen für Reality-TV-Shows Fruchtbarkeit, Babys und die Horrorgeschichten über selbige, wodurch es zu so heiteren Titeln wie Teen Mom 2, Raising Sextuplets oder I Didn’t Know I Was Pregnant kommt. Die Anziehungskraft dieses Genres liegt ganz einfach in der Freude, sich anzusehen, wie andere Leute es mit ihren Kindern noch mehr verbocken, als man es selbst gerade zu vermasseln fürchtet. Für manche Eltern gibt es keinen größeren Quell der Faszination, der Angst und manchmal auch der Wonne, als zu erfahren, wie andere Leute ihre Kinder erziehen – um dann scheinheilig und selbstzufrieden darüber zu richten.

Axt-schwingende Mörder?

Schwer zu sagen, ob dies nun ein Nebenprodukt der täglichen Horror-Nachrichten ist, die Müttern entgegenkreischen, wenn sie ihren Kindern das Fläschen geben/stillen/Vollzeit arbeiten. Mit welcher Variante auch immer, können sie sich sicher sein, ihre Kinder gerade zu Axt-schwingenden Mördern zu machen – dabei tragen all diese Meldungen ihren Teil zur gerade grassierenden Mütterhysterie bei.

Eindeutig ist jedenfalls die Verbindung zwischen den unglückseligen minderjährigen Müttern im Doku-Fernsehen und der überspannten Tigermutter Chua. Ihre Mentalität könnte unterschiedlicher nicht sein, das Geheimnis ihres Erfolgs beim Publikum ist das gleiche.

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Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Hadley Freeman | The Guardian

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