Die Wahl nach der Wahl

Türkei Ekrem Imamoğlu konnte die Regierungspartei AKP bei der Bürgermeisterwahl in Istanbul klar schlagen, weil seine Kampagne überzeugt hat. Er will Gräben überwinden
Ekrem Imamoğlu ist jetzt fast durch
Ekrem Imamoğlu ist jetzt fast durch

Foto: Chris McGrath/Getty Images

Dieser Sieg ist für Präsident Recep Tayyip Erdoğan ein ernsthafter Schlag, für das Land aber ein Meilenstein, weil die Demokratie doch nicht versagt hat. Die Wiederholungswahl, die eigentlich darauf gezielt hatte, Ekrem Imamoğlus knappen Überraschungssieg beim Votum am 31. März zu kassieren, war ein bis dato so nicht dagewesener Test für fragile demokratische Institutionen in der Türkei. Gegenkandidat Yildirim von der AKP gratulierte umgehend und ersparte seiner Partei die Peinlichkeit, darauf zu warten, dass die Niederlage mit der Auszählung der Stimmen immer evidenter wurde.

Die Oppositionsparteien können jubeln. „Wir schlagen in Istanbul eine neue Seite auf. Sie wird der Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Liebe gewidmet sein. Heute haben uns 16 Millionen Istanbuler den Glauben an die Demokratie zurückgegeben“, dankte Imamoğlu seinen Unterstützern in einer im Fernsehen ausgestrahlten Rede. „Ihr habt der Welt gezeigt, dass die Türkei ihre Demokratie weiter schützt. Und anderen Ländern, die versuchen, den Weg zu gehen, den die Türkei gewählt hat, haben wir gezeigt, dass dieser Weg falsch ist.“

Seit die Stimmen ausgezählt sind, kristallisiert sich heraus, dass der Kandidat der Republikanischen Volkspartei CHP seinen Vorsprung von 13.000 im März auf erstaunliche 777.000 Stimmen ausgebaut hat, insgesamt kam er auf 54 Prozent.

In Istanbuls Haupteinkaufsstraßen und in liberalen Vierteln fanden sich spontan feiernde Menschenmengen zusammen. „Das Ergebnis macht den Menschen Hoffnung“, meint die 35-jährige Semra Deniz aus Istanbuls Künstlerviertel Cihangir. „Ich bin vor sechs Jahren in diesen Stadtteil gezogen und seither hat sich vieles zum Nachteil verändert. Ich hoffe, dass die kulturelle Erosion umgekehrt wird, und die Menschen sich wieder frei fühlen, sich selbst auszudrücken.“

Regierung bestrafen

Trotz parteilicher Pro-Regierungs-Medien überraschte Imamoğlu, ein zuvor unbekannter lokaler Politiker, das Land im März mit seinem knappen Sieg. Für Erdoğan war der Verlust seiner Heimatstadt, in der er seine politische Karriere in den 1990er Jahren begonnen hatte, ein persönliches Debakel.

Nachdem die AKP wochenlang Einspruch erhoben hatte, bestätigte das türkische Wahlbüro eine Beschwerde über die Stimmauszählung und annullierte Imamoğlus Sieg vom März. Das rief sogar in den Reihen der Regierungspartei Empörung hervor, da einige befürchteten, das Wahlbüro habe damit die demokratische Legitimation der AKP geschädigt.

In den Wahllokalen äußerten am Sonntag CHP- ebenso wie AKP-Wähler den Wunsch, das Ergebnis der Wiederholungswahl möge als endgültig akzeptiert werden. „Ganz klar geht hier etwas Merkwürdiges vor sich, aber ich weiß nicht was“, beschrieb der 65-jährige AKP-Wähler Cihat Icyumaz sein Gefühl. Wie viele Istanbuler war er früher aus seinem Sommerurlaub zurückgekehrt ist, um abzustimmen. „Meine größte Angst gilt einem möglichen Chaos. Ich möchte einfach, dass der Bewerber gewinnt, der das Beste für Istanbul ist.“

AKP-Bewerber Yildirim setzte in der zweiten Wahlkampfrunde viel daran, den Rückstand zu seinem Kontrahenten aufzuholen, indem er sich der Basis der Partei in Arbeiter- und konservativen Vierteln zuwandte. Dort wurden Wähler vermutet, von denen viele die Regierung für die ökonomische Krise bestrafen wollten, indem sie im März nicht zur Wahlurne gingen. Allerdings hatte Yildirim sowohl in einer TV-Debatte mit Imamoğlu als auch in Gesprächen mit Wählern Schwierigkeiten, die Notwendigkeit der Wahl nach der Wahl zu erklären. Imamoğlu wurde stattdessen zugestanden, die Menschen über religiöse, ethnische und Klassenspaltungen hinweg zusammenbringen zu wollen. Der widmete daraufhin seine Kampagne dem Kampf um die Zukunft der türkischen Demokratie.

Unglaublich belastbar

„Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit geriet die AKP in die Defensive und musste hinter der Opposition herlaufen, die die Narrative dominiert hat“, urteilt der türkisch-amerikanische Politikwissenschaftler Soner Çağaptay. „Erdoğan muss jetzt in seiner Regierung einen echten Frühjahrsputz veranstalten und seine Art und Weise, Politik zu machen, überprüfen, um sich zu erholen. Andernfalls dürften die Rufe lauter werden, die darin den Beginn seines Niedergangs sehen.“

Es kursieren bereits Gerüchte, dass die Niederlage vorgezogene Parlamentswahlen auslösen könnte, da Erdoğan zunehmend versucht, brüchige Elemente aus seiner Regierungskoalition zu verdrängen.

Istanbul ein zweites Mal zu verlieren, ist für die AKP eigentlich ein undenkbares Ergebnis. Als größte Stadt der Türkei und ihr ökonomisches Herz war die Metropole zuletzt für 31 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) verantwortlich. Sie ist eine tragende Säule für die inoffizielle Patronage-Architektur der AKP, von der die Stadt seit gut 25 Jahren kontrolliert wird.

Beobachter merken zudem an, dass Imamoğlus Mandat noch bei weitem nicht gesichert ist: Die Parlamentswahlen von 2015, bei der die AKP ihre Mehrheit verlor, wurde wiederholt, und andere charismatische Herausforderer Erdoğans sahen sich inhaftiert oder gezwungen, unter starkem Druck nachzugeben. Zudem kontrolliert die AKP weiterhin 25 von Istanbuls 39 Bezirken und hat eine Mehrheit im Stadtrat, um es Imamoğlu schwer zu machen, seine Wahlversprechen einzuhalten. Die Vorsprung seines Sieges zeigt aber, dass es nach 16 Jahren AKP-Regierung im Land zumindest in Istanbul ein großes Verlangen nach Wandel gibt.

„Die Türkei wird seit fast zwei Jahrzehnten von einem populistischen Politiker regiert: Erdoğan versuchte in dieser Zeit, die Rechtsstaatlichkeit auszuhöhlen und die Kontrolle über die Medien zu übernehmen“, so Cagaptay. „Die Leute sagen, es dauert lange, um eine Demokratie zu etablieren. Aber das Ergebnis heute zeigt, dass es auch lange dauert, um eine Demokratie zu Grabe zu tragen. Die diesbezüglichen Strukturen der Türkei sind unglaublich belastbar.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung Carola Torti
Geschrieben von

Bethan McKernan | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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