Dose an Ohr

Fertigsounds Der französischen Musikerin Christine and the Queens wird vorgeworfen, die Melodie eines Computerprogramms zu nutzen. Damit ist sie in bester Gesellschaft
Ausgabe 34/2018
Ich lieb das nicht, es liebt mich nicht. Da ding dong dong dong
Ich lieb das nicht, es liebt mich nicht. Da ding dong dong dong

Foto: Joseph Branston/uture Music Magazine/Getty Images

Ist es „Hochstapelei“ oder sogar „Betrug“, wenn Musiker für ihre Songs vorfabrizierte Melodien verwenden, die in einer gängigen Musikproduktionssoftware enthalten sind? Zwei Hörer werfen das der französischen Synth-Pop-Sängerin Héloïse Letissier alias Christine and the Queens vor, weil die markante Tonfolge, mit der ihre aktuelle Single Girlfriend beginnt, aus dem Programm Logic Pro von Apple stammt. Die Frage wird in Frankreich so hartnäckig diskutiert, dass Letissier sich zu einer Stellungnahme gezwungen sah. Sie habe die kostenlosen Loops ganz bewusst genutzt, „als Referenz-Sound, den ich von innen heraus verzerren kann“. Auch ein Blick in die Popgeschichte zeigt, dass der Rückgriff auf vorgefertigte Sounds die kreative Leistung nicht schmälern muss.

Der vermeintlich unnachahmliche Keyboard-Sound von Gary Numans Hitsingle Cars (1979) zum Beispiel kam mit dem Polymoog 280a von Moog frei Haus. Drücken Sie die „Vox Humana“-Taste und der Sound gehört ihnen. Der analoge Synthesizer, Baujahr 1978, ist heute ein Sammlerobjekt, im Netz gibt es aber zahlreiche Foren, in denen vorgeführt wird, wie sich „Vox Humana“ nachahmen lässt.

I’ll be anything you need

Zahlreiche Liebhaber hat auch die Voreinstellung „Vintage Funk Kit 03“, die in der Software GarageBand enthalten ist. Kanye West und Frank Ocean haben das Preset in ihren Songs verwendet, es treibt so unterschiedliche Songs wie Rihannas Umbrella (2007) und One More Night von Maroon 5 an. Mit nur einem Tastendruck erhält man einen exzellenten Drum-Beat. Ihn zu verwenden ist deutlich einfacher (und billiger), als selbst den Break von James Browns legendärem Schlagzeuger Clyde Stubblefield im Song Funky Drummer imitieren (lassen) zu wollen.

Zu den Grooves mit dem größten Wiedererkennungseffekt gehört ein schlichtes Preset auf der Primitive Drum Machine von Roland. Der Roland CR-78 kam frei Werk mit so sexy klingenden Beats wie Walzer und Bossa Nova. Darryl Hall benutzte die weniger verheißungsvolle Voreinstellung „Rock 1“, um 1981 den Klassiker schlechthin von Hall & Oates schreiben: I Can’t Go for That (No Can Do). Den Groove dieses Liedes benutzte Michael Jackson dann für Billie Jean. CR-Grooves sind in vielen Pop-Hits jener Zeit zu finden, von OMDs Enola Gay bis zu Phil Collins’ In the Air Tonight und Blondies Heart of Glass.

In den 1980er Jahren kamen dann Voreinstellungen hinzu, die auch komponierte Elemente enthielten. Die Basic-Drum-Tracks mit Melodie des in Japan entwickelten Synthesizers Casio VL-Tone finden sich in so unterschiedlichen Hits wie White Towns Nummer-1-Single Your Woman und Mansuns Take It Easy Chicken (beide aus dem Jahr 1997) wieder. Das Preset „Rock 1“ ist vor allem auch berühmt-berüchtigt als Grundlage von Trios Megahit Da Da Da (1982).

Nicht zu vergessen in der Rangliste der populärsten Presets sind die Sounds der Keyboard-Firma E-MU. Laut der exzellenten Website whosampled.com tauchen die Klänge von E-Mus Voreinstellung „Wind-Chimes Birds und Streams (Loon Garden)“ aus dem Jahr 1984 in sage und schreibe 98 Popsongs auf. Der nervtötend zwitschernde Vogel in 808 States Acid-House-Hit Pacific State aus dem Jahr 1989 stammt ebenso aus diesem Preset wie 25 Jahre später der Keyboard-Sound in R&B-Sängerin Nicki Minajs Anaconda. Ebenfalls in den 1980ern kam „Shakuhachi“ auf den Markt, eine synthetische japanische Bambusflöten-Voreinstellung, die erstmals auf dem legendären, irrsinnig teuren Keyboard Fairlight CMI eingebaut war, das vor allem von reichen Rockstars wie Kate Bush und Peter Gabriel gespielt wurde. Gabriel benutzte es etwa für seinen Song Sledgehammer, mit dem er 1986 ganz oben in den Charts war. Die Voreinstellung “Orch5“ auf dem gleichen Instrument ist in nicht weniger als 100 Songs wiederzufinden, darunter Afrika Bambaataas wegweisender Track Planet Rock.

Was die Auswahl an professionell produzierten und kuratierten Preset-Paketen angeht, sind Musikschaffende heute reichlich verwöhnt. Das britische Unternehmen Zero-G produziert sie seit 1990 und man kann Beispiele davon in alten Dance-Tracks wie Prodigys Weather Experience über Haddaways What Is Love? bis hin zu jüngeren Werken von Rammstein und Skrillex hören. Kanye West benutzt Zero-Gs „Africa voice 161“ aus dem Jahr 1991 in seinem Song Clique (2012), während „Africa 13 111“ in Big Shot auftaucht, das Kendrick Lamars kürzlich mit Travis Scott aufgenommen hat. Unterdessen reichen die Nutzer der Sample Boutique des Herstellers Loopmaster vom kanadischen Musikproduzenten Deadmau5 bis zum französischen DJ und Musikproduzenten David Guetta. Kendrick Lamar nutzt für seinen Track Feel (2017) zwei von Loopmasters Standard-Samples: „COF_125_Am_LaidOut_Underwater“ und „COF_134_B_Changed_Dopey“. Merke: Wenn vorgefertigte Sounds gut genug für den ersten Pulitzer-Preisträger unter den Popstars sind, dann ja wohl für alle anderen auch.

Dave Simpson ist Musikkritiker des Guardian und Autor des Buchs über sämtliche Bandkollegen von Mark E. Smith The Fallen: Life In and Out of Britain’s Most Insane Group (2009)

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Dave Simpson | The Guardian

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