„Sehen Sie sich dieses Haus an“, sagt Nivia Bruno Ribeiro und zeigt auf eine kleine, von üppiger Vegetation verdeckte Behausung ganz oben auf der Anhöhe von Babilônia, einer Favela im Süden von Rio. „Früher wurden alle Wohnungen hier so gebaut, mit pau a pique“ (Lehm und Bambus). Über einen unbefestigten Weg, auf dem überall das gelbe Fruchtfleisch der Jackfrucht verspritzt wurde, gelangen wir zu Nivias eigenem blauen Holzhaus, von dessen Terrasse aus man in der Ferne ein kleines Stück Meer sehen kann. Außenstehende kommen selten in diesen Teil der Favela. Die Wege führen so nah an den Häusern der Menschen vorbei, dass man sich wie ein Eindringling fühlt.
Es gibt zwei Theorien, warum diese Favela, eines der etwa tausend informellen Quartiere in Rio, Babilônia genannt wird: Manche sagen, der Name sei von einer lokalen Brauerei übernommen worden, als die Siedlung im 19. Jahrhundert entstand; andere glauben, die außergewöhnliche Schönheit der Natur habe die Namensgeber an die Hängenden Gärten von Babylon erinnert. Im oberen Teil des grünen Hügels, auf den die Bewohner Lebensmittel und anderes zu Fuß schleppen müssen, verfügen viele Behausungen nicht einmal über die elementare sanitäre Grundausstattung, und die Natur hat das Sagen.
Einfach in die Büsche
Die Favela sei seit jeher bekannt für ihre große Ruhe, erzählt der 38-jährige Informatik-Dozent Ribeiro. „Ich lebe hier in der vierten Generation. Meine Eltern haben noch Kerzen und Laternen benutzt, weil es keinen Strom gab. Aber es ist wunderbar – wenn ich aufwache, bin ich von Vögeln umgeben, die in den Bäumen sitzen”.
Nun, da Babilônia eine rasche Gentrifizierung erlebt, wartet Ribeiro wie viele Bewohner darauf, in das gut 60 Kilometer entfernte Santa Cruz im Westen Rios zu ziehen. Die Umsiedlung ist Teil des preisgekrönten Morar-Carioca-Plans, mit dem die Stadt 2010 im Blick auf die Olympischen Spiele damit begonnen hat, Favelas von Rio aufzuwerten. In Babilônia sah der Plan den Abriss von Häusern vor, die „Risiko-Kategorien“ zugeordnet wurden: Häuser, die in Umweltschutzregionen oder in Gebieten stehen, in denen es zu einem Erdrutsch kommen kann. Ribeiros Haus gehört zur letzten Kategorie.
Andre Constantine, Sprecher der Anwohner, trägt den Kampf der Betroffenen in die Stadt. Passenderweise befindet sich sein Büro in einem Gebäude genau oberhalb der Stelle, an der die befestigte Straße ausläuft. Von hier aus vermittelt er im Streit mit den Behörden, klärt die Bewohner über ihre Rechte auf und berät jeden, der die Stufen zu seiner grün lackierten Tür emporsteigt. Als ich ihn besuche, ist Constantine gerade wütend darüber, dass die Stadt ihr ursprüngliches Versprechen nicht einhält, alle Bewohner, deren Wohnungen zu den Risiko-Kategorien gehören, in neuen Apartmentblocks in Babilônia und in der angrenzenden Favela Chapeau-Mangueira unterzubringen. Bei den Bauarbeiten sei das Geld ausgegangen. So fehle in manchen Häusern noch immer die sanitäre Grundausstattung.

Foto: Mario Tama/Getty Images
Die Bewohner wurden bewusst getäuscht, glaubt Constantine. Der Morar-Carioca-Plan diente seiner Meinung nach lediglich dazu, vor den Olympischen Spielen die armen, überwiegend dunkelhäutigen Bewohner aus Favelas in attraktiven Lagen wie der Region Süd zu verdrängen. „Wir Bewohner müssen für dieses Mega-Event büßen“, schimpft er. Als 2007 sein Vater ermordet wurde, begann Constantine, sich politisch zu engagieren. „Nach einem solchen Schock, mit dem sich das ganze Leben verändert, bleibt einem nur die Politik oder die Religion.“ So ist er heute Sprecher der Bürgerrechtsbewegung Favela Não Se Cala (Die Favela schweigt nicht).
Constantine hegt keine Zweifel, Ziel der 2009 begonnenen Befriedung, als bewaffnete Polizeieinheiten in die von Drogenkartellen kontrollierten Favelas eindrangen und diese quasi besetzten, sei es, die arme Bevölkerung zu vertreiben. Die Menschen müssten verstehen, dass die Polizisten Protagonisten in einem Prozess seien, der unvermeidlich zu „sozialen Säuberungen“ geführt habe. Mit der Befriedung verdoppelten sich die Wohnungs- und Mietpreise in den Favelas. Viele der alteingesessenen Bewohner mussten weichen, Migranten aus ärmeren Regionen Brasiliens konnten sich nicht mehr hier ansiedeln. „Nur noch Leute aus der Mittelschicht können sich das hier leisten“, meint Constantine. „Sogar Ausländer ziehen her und verschieben die Armut an die Ränder der Stadt.“
Ungeachtet dessen sieht sein Viertel so aus, als werde es teilweise noch immer mit bloßen Händen errichtet. Oberhalb von Constantines Büro schleppen Bauarbeiter Zementsäcke auf ihren Schultern den Berg hinauf. Weiter unten flankieren bewaffnete Polizisten einige Touristen, die zu einem der Hostels hoch stapfen, die eröffnet haben, seit die Favelas befriedet sind. Während derartige Neubauten von außen so modern wirken wie Gebäude an der Strandpromenade von Rio, gibt es Bedenken wegen der Baumethoden und verwendeten Materialien. Gleichzeitig hätten die Bewohner weiter oben noch nicht einmal Toiletten, sagt Constantine. „Die Leute gehen einfach in die Büsche.“
Bruno Ribeiro ärgert es, dass die Community nun auch noch für Touristen sorgen soll, die zusätzlich Müll verursachen. „Wir haben hier wahrlich genug Probleme. Wozu jetzt Touristen in diese Gegend lotsen? Das empört mich. Wir haben noch nicht einmal einen anständigen Weg für unsere Quartiere ganz oben. Bauprojekte wie Hostels entsprechen nicht unserer Lebenswirklichkeit. Wir brauchen Schulen, Krankenhäuser und Internet-Kabel.“ Das Interesse von außerhalb sei sowieso nur vorübergehend. „Ich bin es leid, Fragen für irgendwelche Statistiken zu beantworten. Wenn etwa Leute hierherkommen, um einen Film zu drehen, warum schenken sie uns nicht eine Kamera?“
Wieder Gewaltausbruch
Dass die Gentrifizierung für neue Verdienstmöglichkeiten sorgt, zeigt sich an den Leuten, die für gewöhnlich vor der Bar do David abhängen, einem von mehreren Restaurants am Eingang von Chapeau-Mangueira. Das Menü hier hat Preise gewonnen, die Bar ist berühmt für ihre gut 200 Varianten Cachaça, ein Rum, der aus Zuckerrohr-Saft gewonnen wird. An den meisten Abenden erklimmen Brasilianer und Touristen gleichermaßen den unteren Teil des Hügels, um sich bei einem Bier anzusehen, wie die Sonne über den Apartmentblocks untergeht, die einen Keil zwischen die Favela und den Strand treiben.
Der 44-jährige Barbesitzer David Bispo muss dennoch kämpfen, um über die Runden zu kommen. Er war Fischer, bis er vor sechs Jahren sein Lokal eröffnet hat. Er ist genervt, nach Jahren des relativen Friedens explodiert gerade wieder die Gewalt zwischen rivalisierenden Drogengangs in der Favela. Vor zwei Tagen haben Leute aus dem Viertel Touristen in seine Bar gedrängt und schnell die Rollläden heruntergelassen. Das Wochenende zuvor gab es immer wieder Schießereien. Zwei Männer starben, ein dritter wurde durch einen Querschläger verletzt, während er zu Hause in der Badewanne saß. Anwohner sagen, die Gangs seien von Mitgliedern aus anderen Teilen Rios zur Gewalt angestachelt worden. Jetzt schweben wieder Polizeihelikopter über der Gegend, und die gefürchteten caveirãos (gepanzerte Polizeifahrzeuge) rumpeln die Straße hinauf, um Bewohner und Touristen von der Straße zu verscheuchen.
David Bispo, ein freundlicher Wirt, der auf Englisch mit seinen Gästen plaudert, ist skeptisch. „Ausländer kommen her, wollen sich niederlassen und Geschäfte eröffnen, um woanders keine Steuern zahlen zu müssen. Auf eine Art ist das feige.“ Solche Unternehmen hätten seiner Meinung nach automatisch einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz der Alteingesessenen.
Bispos Vater hat die erste Bürgervereinigung in Chapeau-Mangueira gegründet und war gegen die Militärdiktatur aktiv. „Sollten die Vorteile der neuen Zeit nicht denen zugute kommen, die sie wirklich verdienen?“, fragt Bispo. „Sollten nicht die davon profitieren, deren Vorfahren für das Viertel gekämpft haben?“ Leute von außen würden Unternehmern wie ihm helfen, sich eine Existenz aufzubauen, aber wenn das Kleinkind von Ausländern einen Platz in der örtlichen Krippe erhalte, während das Kind von Verwandten leer ausgehe, irritiere ihn das schon.
Jahrzehntelang ließ staatlicher Gleichmut in Rios Favelas nur mühevolle Fortschritte zu. Als sich das änderte, waren manche Bewohner zufrieden, dass neue Verdienstmöglichkeiten entstanden und mehr Wert auf Sicherheit gelegt wurde. Andere ärgerten sich über den von außen verordneten Wandel.
In der Bar Nosso begrüßt Besitzer Francisco Nuñes die Integration von Touristen. Vorausgesetzt, sie respektieren die Bewohner. Eine Haltung, die auch Constantine teilt, wie er mir versichert, als wir uns wiedersehen. „Wir wollen keinen Safari-Tourismus. Leute kommen her, machen Selfies und wollen sehen, wie exotisch wir sind.“ Es sei ihm wichtig, die Kultur der Favela zu bewahren. Manche verweisen auf Vidigal, eine andere Favela in der Region Süd und ein Beispiel dafür, wie die Gentrifizierung einer Siedlung die Identität rauben kann. Constantine will deshalb für die Community ein Museum eröffnen, das Kultur und Traditionen der Schwarzen wie die Candomblé-Religion würdigt. Doch das Gebäude, in dem es untergebracht werden sollte, bleibt der Polizei vorbehalten. „Ich träume von einem besseren Brasilien. Das wird nur möglich sein, wenn wir in die richtigen Dinge wie Bildung, Kultur, Kunst und Freizeit investieren“, sagt er frustriert. „Wir in der Favela wollen unsere Rechte. Werden wir am Rande der Gesellschaft gehalten, wird es immer Probleme geben.“
Seit die Frist abgelaufen ist, in der die Stadt ihren Plan für die Umsiedlung der Bewohner von Babilônia vorstellen sollte, geht Constantine zusammen mit den Betroffenen rechtlich gegen die Maßnahmen vor. Er handelt damit auch im Interesse von Ribeiro, der sagt: „Mein Haus ist alles für mich. Ich will nicht weg. Ideal wäre es, wenn sie auf der Hinterseite eine Stützmauer errichten würden. Ich verstehe nicht, warum das nicht möglich sein soll.“ Constantine ergänzt: „Unsere Favela liegt mitten in einer relativ reichen Gegend der Stadt, wo die Steuereinnahmen mit am höchsten sind, und manche Leute haben noch nicht einmal einen Wasseranschluss in ihrer Wohnung. Wie lange müssen wir hier noch warten, bis die Regierung endlich in die Ausstattung der Häuser investiert?
Nachdem ich Babilônia an diesem Abend verlasse, höre ich im Radio, dass es dort wieder zu Gewaltausbrüchen gekommen ist. Einwohner und Touristen mussten sich in einem Haus verbarrikadieren, während draußen 20 Minuten lang geschossen wurde. Offenbar kommt der Fortschritt in den armen Vierteln gegen die Gewalt nicht an.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.