Noch vor wenigen Wochen blickte Sandra García hoffnungsfroh in eine positive Zukunft, die Präsident Nayib Bukele der nach Chancen hungernden Jugend von El Salvador bei seiner Wahl vor drei Jahren versprochen hatte. „Ich habe für ihn gestimmt, weil ich glaubte, dass wir ein besseres Leben haben würden“, erzählt die 23-Jährige, eine von Hunderttausenden jungen Salvadorianern, die den heute autoritär agierenden Politiker zum Präsidenten wählten. Doch die Träume platzten, als bei einer der größten Sicherheitsoffensiven in der jüngeren Geschichte Zentralamerikas der Mann, den sie heiraten wollte, festgenommen wurde. Nach Angaben seiner Familie arbeitete Juan José Ibáñez in einer Pizzeria und hatte keiner
„Coolster Diktator der Welt“: El Salvador auf dem Weg zum autoritären Staat
„Krieg gegen die Gangs“ In El Salvador gibt sich Präsident Nayib Bukele ein hippes Image – und verhängt gleichzeitig einen drakonischen Ausnahmezustand
Tom Phillips
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The Guardian

Männer in einem Gefängnis in El Salvador
Foto: Presidency of El Salvador/Handout/Anadolu Agency/Getty Images
nerlei Verbindung zum organisierten Verbrechen. Zwei Tage nach seiner Verhaftung wurde er in ein Hochsicherheitsgefängnis gebracht, in dem viele der inzwischen mehr als 38.000 Menschen landeten, die auf Order der Regierung ab Ende März festgesetzt wurden. Zwei Wochen nach seiner Festnahme war Sandras Freund tot. Wie mindestens 35 andere Inhaftierte ist er unter ungeklärten Umständen gestorben. Eine der Konsequenzen des drakonischen Ausnahmezustandes, den Präsident Bukele aufrechterhält, um kriminelle Gangs für immer auszuschalten.Eines Morgens stand ein Bestatter vor Sandra Garcías Tür in Salcoatitán, einem beschaulichen Touristenort, und überbrachte die Todesnachricht. „Meine Welt brach zusammen, als ich neben dem Sarg stand, in dem sein Leichnam lag“, sagt sie.„Willst du der Nächste sein?“Bukele erklärte seinen „Krieg gegen die Gangs“ am 27. März. Zuvor hatte das Blutvergießen so explosionsartig zugenommen, dass es selbst für ein Land schockierend war, in dem schon immer extreme Gewalt an der Tagesordnung war. Seit der Populist Bukele 2019 das Ruder übernahm, ging die Mordrate zunächst zurück, angeblich dank eines geheimen Paktes mit der Mara-Salvatrucha-Gang. Doch Anfang März dieses Jahres kam es zu einer Welle von Gewalt, die von Bukeles angeblicher Erfolgsstory nichts übrig ließ – an einem einzigen Tag wurden 62 Menschen getötet. „Es geschah an einem Samstag und war so schockierend, dass ich meinen Kindern verbot, das Haus zu verlassen, weil es wirklich schlimm war“, erzählt der Kriminalreporter Jorge Beltrán, der seit mehr als zwanzig Jahren über die Gangs in seinem Land schreibt. „Früher gab es an den schrecklichsten Tagen vielleicht 50 Tote. Aber über 60? Das noch nie.“Eine Leiche wurde vor den Eingang von Bukeles Lieblingsprojekt geworfen, einer Retortensiedlung mit dem Spitznamen „Surf City“. Damit will der frühere Werbemanager die Wirtschaft fördern und El Salvador zu einer Marke machen, die sich als tropisches Paradies für Sonnensucher und Fans von Kryptowährungen empfiehlt. „Dieser Tote war ein Schlag gegen das Image des Präsidenten, der dem etwas entgegensetzen musste, was es noch nie gab“, meint Tiziano Breda von der NGO International Crisis Group. Bukeles „Etwas“ war ein Ausnahmezustand, der ohne Probleme vom Parlament genehmigt wurde, in dem seine Partei „Nuevas Ideas“ die Mehrheit hat. Dies führte dazu, dass während der vergangenen drei Monate mehr Menschen verhaftet wurden als im ganzen Jahr 2021. Betroffen sind zumeist junge Männer und Frauen aus unterprivilegierten Verhältnissen, deren Namen und Fotos jeden Tag über die staatlichen Medien verbreitet werden. „Es ist wirklich, wirklich beeindruckend“, so Tiziano Breda. „Wir erleben eine umfassende, weil landesweite Operation mit dem Ziel, jeden zu verhaften, der in irgendeiner Weise etwas mit Gangs zu tun hatte oder zu tun haben könnte.“ Im kleinsten Land Zentralamerikas kann man sich dem Schreckgespenst von Bukeles Sicherheitsoffensive kaum entziehen. Auf großen Plakaten werden die Bürger aufgefordert, über eine Telefon-Hotline potenzielle Terroristen anzuzeigen. Radiosender senden ohne Unterlass staatliche Propaganda, in der Staatsdiener schwören, sie würden „den Kampf bis zum Ende durchziehen. Wir hören nicht auf, bis es keine Gangs mehr gibt“. Vor dem Gefängnis „La Esperanza“ zeigt ein Poster einen Sicherheitsbeamten, der mit einem Knüppel in der Hand einen halb nackten Mann fragt. „Willst du der Nächste sein? Du hast die Wahl!“Viele Salvadorianer sind begeistert vom Frontalangriff auf die aus den USA kommenden Gangs, die Verheerungen anrichten, seit sie in El Salvador nach dem Ende des zwölfjährigen Bürgerkriegs 1992 Fuß fassen konnten. „Er hat diese ganzen Verbrecher gefasst, wir fühlen uns so viel sicherer“, meint die 61-jährige Bukele-Anhängerin Sandra López, die kürzlich an einer Demonstration für den Präsidenten in der Hauptstadt San Salvador teilnahm. Umfragen zeigen, dass Bukele seit Ausrufung des Ausnahmezustands noch populärer geworden ist, die Zustimmungsrate tendiert in Richtung 90 Prozent.Dagegen erleben Hunderte von Frauen, die vor Haftanstalten wie „La Esperanza“ auf der Straße übernachten, Bukeles „Offensive“ als einen Albtraum. Verzweifelt versuchen sie, etwas über den Verbleib von Männern, Vätern oder Brüdern zu erfahren, die wegen vager Vorwürfe verhaftet wurden. Auch viele dieser Frauen gaben Bukele 2019 ihre Stimme. Nach wochenlangem Campen auf dreckigen Bürgersteigen sind sie erschöpft und ohne Hoffnung. „Das ist kein Krieg gegen Gangs, sondern gegen die Menschen“, erregt sich eine Frau aus der Stadt Santa Ana, die ihren Bruder sucht. Etwas weiter die Straße entlang sitzt eine Frau, die ebenfalls verzweifelt wirkt. Mari Hernández berichtet, ihr Lebensgefährte Saul Gómez habe in einer Zuckerfabrik gearbeitet, bis ihn die Polizei Ende April festnahm. „Sie sagten, es sei eine Anordnung des Präsidenten, dass Leute abgeholt werden, egal, ob sie Verbrecher sind oder nicht. Wenn sie Saul nicht verhaften würden, kämen sie selbst in Arrest, weil sie gegen das Gesetz verstoßen.“ Sie selbst sei 24 und hochschwanger. Die Polizisten hätten ihr versprochen, dass ihr 25-jähriger Freund bald wieder freikomme. Acht Wochen später befindet der sich weiter hinter Gittern, während sie in Kürze ihr Kind erwartet. „Ist es in El Salvador jetzt ein Verbrechen, jung zu sein? Man ist nirgends sicher.“Placeholder image-1Erschwerend käme für sie hinzu, dass durch eine Vorsorgeuntersuchung bei ihrem Baby ein unregelmäßiges Herzgeräusch festgestellt wurde. Aber ohne das Einkommen ihres Partners könne sie sich keine Behandlung leisten.Wie der Kriminalreporter Jorge Beltrán schreibt, haben viele Inhaftierte offensichtlich keine Verbindungen zu irgendwelchen Banden. „Sie wurden nur verhaftet, weil der Polizei ihr Aussehen nicht gefiel oder weil sie vielleicht vor Jahren einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren.“ Eine präzise und gezielte Offensive gegen mörderische Gruppen würde er unterstützen, meint Beltrán, der früher Soldat war. „Aber die gibt es nicht, sie nehmen einfach wahllos Leute mit.“ Und wie in jedem inneren Krieg seien es immer die Armen, die leiden.„Wir hatten so viele Träume“Die Bukele-Regierung verteidigt, was sie einen „lange notwendigen Schlag gegen gefährliche Terroristen“ nennt. Ein Interview dazu lehnen der Präsident und sein Sicherheitsminister indes ab. „Es ist ein Krieg zwischen aufrechten Bürgern El Salvadors und den Kriminellen, die uns seit Jahren zu einem Leben in Angst, Trauer und Leid verdammt haben“, sagte Bukele kürzlich in einer Rede nach drei Jahren im Amt. „Wir haben Gott und die Menschen von El Salvador auf unserer Seite.“ Unterdessen feiert Tourismusministerin Morena Valdez das harte Durchgreifen. Sie besucht „Surf City“, wo ein internationaler Surf-Wettkampf stattfindet und erklärt: „Der Tourismusbranche hat die Härte einen Boom gebracht.“ Dagegen sehen kritische Stimmen den Ausnahmezustand als Weichenstellung für einen Weg in Richtung Tyrannei unter einem messianischen Staatsführer, der bereits jetzt enorme Macht angehäuft hat und sich sarkastisch selbst „den coolsten Diktator der Welt“ nennt.„Ich sehe die Wegmarke hin zu einem autoritären Staat, in dem die Macht auf eine Person und eine Familie konzentriert ist. Das erinnert stark an das, was gerade in Nicaragua passiert“, urteilt der Investigativ-Journalist Jimmy Alvarado von der Internetzeitung El Faro, die den geheimen Pakt der Regierung mit den Gangs aufgedeckt hat. Johnny Wright Sol, einer der wenigen Oppositionspolitiker im Parlament, schlägt in die gleiche Kerbe. „Die Geschichte sagt uns, dass viele dieser populistischen Regierungen auf autoritäre Experimente aus sind. Auffällig dabei ist das Tempo, in dem das passiert. In Nicaragua brauchte Daniel Ortega dafür sehr viel länger als Bukele.“ Wright fürchtet, die Offensive gegen die Gangs könne eine menschliche Katastrophe auslösen, indem sie weitere Gewalt und Krankheiten in die überfüllten Gefängnisse trägt, dazu arme Familien noch tiefer ins Elend stößt. „Das ist der Übergang zu einer schweren humanitären Krise.“Sandra García muss diese Krise als Tragödie durchstehen. Sie hat eine Fehlgeburt erlitten. Als sie das dem Polizisten beizubringen versuchte, der ihren Partner Juan José Ibáñez abholte, antwortete der nur: „Das ist uns egal – wir müssen eine bestimmte Quote an Verhaftungen erfüllen.“ Zwei Wochen später wurde Ibáñez aus Gründen, die unklar blieben, aus dem Gefängnis in ein Krankenhaus verlegt. Dort starb er in den frühen Morgenstunden des 25. Mai. „Niemand hat mir etwas dazu gesagt, niemand hat mir erklärt, warum“, so Sandra García. Wenige Stunden nachdem sie die Leiche ihres Verlobten identifiziert hatte, stand García neben seinem Sarg und begriff, welchen Verlust sie hinnehmen musste. „Wir hatten so viele Träume, wir wollten Kinder, zusammen ein Geschäft aufbauen, zusammen studieren – und jetzt ist das alles dahin. Durch seinen Tod aus und vorbei. So viele El Salvadorianer haben so viel von Bukele erwartet, aber sie wurden wie wir betrogen.“Am nächsten Tag ziehen die Trauernden in einer Prozession durch das Stadtzentrum von Salcoatitán zu einer rot-weißen Kirche, wo der Priester aus dem „Evangelium nach Johannes“ liest und den unter Schock stehenden Trauernden sagt: „Ihr werdet weinen und heulen, aber die Welt wird sich freuen.“ Über dem ruhigen, mit Bäumen bestandenen Friedhof liegen Resignation und Bitterkeit. Sandra García wird ohnmächtig, als der Sarg in die Erde gesenkt wird. Fassungslose Mütter – einige haben Söhne, die im Gefängnis sitzen – machen ihrer Empörung Luft, weil Präsident Bukele einen Krieg gegen El Salvadors Jugend führt. „Es ist erschreckend und böse“, schreit wütend eine Frau und beklagt, dass so viele Landsleute diesen Staatschef wegen 300 Dollar Corona-Soforthilfe geradezu verehren. Dass Ibáñez eines natürlichen Todes gestorben ist, glaubt die Frau nicht. Aber sie sieht auch keine Chance, je die Wahrheit zu finden. „Gott wird für Gerechtigkeit sorgen“, hofft sie, als sich die Trauernden auf den Heimweg in Viertel machen, in denen die jungen Leute zurzeit Angst haben, das Haus zu verlassen.Placeholder authorbio-1