Palästina-Papiere Die Veröffentlichung der geheimen Verhandlungsprotokolle war sinnvoll. Man weiß nun, welch hohen Preis Israel für einen Friedensschluss in der Westbank verlangt
Es schien für viele Palästinenser ein Schock zu sein. Sie mussten erfahren, dass sich ihre Verhandlungsführer im Geheimen dazu bereit fanden, bis auf eine Ausnahme, alle Siedlungen in Ostjerusalem als israelisches Territorium anzuerkennen. Die Option gehörte zu einer ganzen Reihe von Konzessionen, wie aus vertraulichen Verhandlungsprotokollen der Autonomiebehörde hervorgeht. Kritiker einer Veröffentlichung dieser Dokumente durch den Guardian und den Sender Al-Jazeera feuern nun in mehrere Richtungen. Zunächst einmal wird behauptet, die Papiere seien nicht echt; außerdem unvollständig und einseitig; dann heißt es wieder, es stehe nichts Neues darin. Die Protokolle seien allein dazu gut, Hamas Vorteile zu verschaffen, dem Friedensprozess zu s
seien allein dazu gut, Hamas Vorteile zu verschaffen, dem Friedensprozess zu schaden und die Zweistaatenlösung zu zerstören.Lassen Sie uns mit dem haltlosesten Argument anfangen, die Dokumente seien gefälscht, was sie zu den Hitler-Tagebüchern des Nahen Ostens macht. Am 25. Januar verbürgte sich Nabil Shaat, ehemaliges Mitglied des palästinensischen Verhandlungsteams, für die Authentizität der Quellen. Und was ist mit dem Vorwurf, die Papiere spiegelten nur die Sicht der palästinensischen Seite des Verhandlungstisches? Wen das stört, der könnte ebenso behaupten, die New York Times hätte niemals die Pentagon-Papiere veröffentlichen dürfen, ohne ihnen eine ebenbürtige Auswahl an Dokumenten aus dem nordvietnamesischen Verteidigungsministerium entgegenzustellen. Eindeutig, so die Kritiker, habe der Whistleblower mit der Weitergabe der Dokumente ein bestimmtes Interesse verfolgt. Sicher, was sonst? Würde man deshalb von brisanten Veröffentlichung absehen, wäre wir nie etwas Neues zu erfahren. Im Übrigen kann der Leser für gewöhnlich eins und eins zusammenzählen.Hillary Clinton ungerührtEs sollte im Übrigen nicht vorschnell kaltes Wasser über die Offenbarung gegossen werden, dass Palästinenser bereit waren, von Israelis besetzte Gegenden Ostjerusalems abzutreten. Ein derartiger Verzicht gehörte schon im Sommer 2000 zu den „Clinton-Parametern“ bei den Verhandlungen zwischen Yassir Arafat und Israels Premier Ehud Barak in Camp David. Wer nicht an Gedächtnisschwund leidet, könnte sich erinnern, dass der PLO-Vorsitzende diesen Teil der Parameter nicht hinnehmen wollte. Wenn die palästinensische Führung also heute akzeptieren, was sie einst ablehnte, sind das doch wohl Neuigkeiten.Was nun den schwerer wiegenden Vorwurf angeht, der Guardian habe kein Recht dazu, Unterlagen zu veröffentlichen, deren Bekanntwerden den Friedensprozess beschädigen, wenn nicht zerstören könnte, so wurde diese Debatte bereits über Wikileaks geführt. Ein Nachrichtenpool hätte seinen Namen nicht verdient, wollte er zögern, einen Dokumentenfund wie diesen zu veröffentlichen. Nur in absoluten Ausnahmefällen – wenn ein direktes Risiko für das Leben namentlich genannter Person besteht – sollten Journalisten ihren Lesern solche Informationen vorenthalten. Selbstverständlich haben derartige Publikationen politische Konsequenzen, auch unangenehme. Es wird immer irgendeinen Regierenden geben, der für Zurückhaltung plädiert, weil die Zeit noch nicht reif ist, und die Öffentlichkeit eben leer ausgehen muss. Dies gilt besonders für den Nahen Osten. Nehmen Sie Tunesien. Es mag übertrieben sein, den Aufruhr Revolte dort als „erste Wikileaks-Revolution“ zu bezeichnen, aber unbestreitbar ist, dass Enthüllungen über den luxuriösen Lebensstil der Herrscherfamilie entscheidende Wirkungen erzielten. Das stört Hillary Clinton freilich nicht, die Veröffentlichung der Palästina-Papiere ungerührt als Angriff auf die USA und die internationale Gemeinschaft zu brandmarken.Tabus werden gebrochen Viele Beobachter haben angenommen, dass die aufgedeckte Kompromissbereitschaft der palästinensischen Führung nicht nur den Stolz der Palästinenser verletzt, sondern so viel Abscheu hervorruft, dass die sich in einem mit Tunesien vergleichbaren Aufstand der Bevölkerung gegen die Autonomiebehörde (PA) entladen könnte, ohne die der Friedensprozess am Ende wäre. Das kann immer noch geschehen, wenn man bedenkt, wie gering das Ansehen der Abbas-Administration bei der Bevölkerung bereits ist. Zumindest fürs Erste wollten die Palästinenser diesem Plot nicht folgen. Wohl auch, weil die Vermutung kursiert, hinter dem Coup von Al-Jazeera stehen dessen katarische Gönner und Geldgeber, die Hamas zu Gefallen sein wollen. In Ramallah mag der Mann von der Straße wenig Vertrauen in die Autonomiebehörde haben, findet aber die Alternative Hamas ebenso wenig attraktiv und ist wenig entzückt, wenn sich Außenstehende einmischen.Darüber hinaus, so ein ranghoher palästinensischer Funktionär, könnten die Dokumente leisten, was die PA bislang versäumt hat – die palästinensische Öffentlichkeit auf die schmerzhaften Konzessionen einzustimmen, die ihnen der Frieden eines fernen Tages abverlangen wird. Es ist Zeit, die Illusion abzurüsten, ein Frieden sei ohne hohen Preis zu haben. Jetzt kann darüber diskutiert werden, was ein Friedensvertrag wert sein kann.Etwas Ähnliches wie jetzt in der Westbank ereignete sich in Israel nach den erwähnten Camp-David-Verhandlungen, als bekannt wurde, dass Premier Barak zur Teilung Jerusalems bereit war. Das erzeugte Wut und Aufregung, aber ein Tabu war gebrochen. Auch im jetzigen Fall haben die Palästina-Dokumente in Israel einen nützlichen Effekt, da einflussreiche Personen zu dem Eingeständnis zwingen: Es gibt auf der anderen Seite sehr wohl einen Partner für Verhandlungen. Um so mehr sind diejenigen nicht verstehen, denen es lieber wäre, die Protokolle wären im Dunkeln geblieben.
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