„Feiert nicht ihre Feste“

Türkei Terrorangst und Depression sind auch ein Zeichen dafür, wie islamistische Fanatiker die Atmosphäre des Landes verändert haben
Ausgabe 02/2017

Permanente Anspannung und Angst prägten das vergangene Jahr für die Türkei. Eine nicht abreißende Kette tödlicher Angriffe des Terrors hat die Menschen verängstigt, inzwischen oft traumatisiert. In nahezu jeder Stadt gab es öffentliche Bestattungen. Selbst Trauer vermag es nicht, eine Gesellschaft zu einen, die so zersprengt ist wie die unsrige.

Als Nation verbringen wir heute mehr Zeit damit, über den Tod zu reden, als über die schönen Dinge des Lebens. „Wird es wieder nach einem Fußballspiel passieren? Oder vielleicht, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme? Oder zuvor im Bus? Wann werde ich zu einer Zahl?“, fragen wir uns und sprechen damit aus, was Millionen Menschen empfinden. „Sei nicht traurig, wenn du nicht im Lotto gewonnen hast“, schrieb jemand bei Twitter. „Wenn du am Leben bist, ist das in der Türkei der größte Lotteriegewinn.“

Die Opfer der Terroranschläge werden von der Regierung „Märtyrer“ genannt, in den Städten Orte des Horrors in „Märtyrer-Berg“ oder „Straße der Märtyrer“ umbenannt. Minister bedenken Polizeibeamte mit dem Wunsch, sie mögen sich für die Nation opfern. „So Gott will, sollt auch ihr Märtyrer sein“, wünscht ihnen Mehmet Özhaseki, Minister für Umwelt und Städteplanung. Wie in diesem Fall wird unablässig versucht, innenpolitische Inkompetenz hinter einer chauvinistischen und patriotischen Rhetorik zu verstecken. Wer die offizielle Linie infrage stellt, wird als „Verräter“ und „Marionetten westlicher Mächte“ beschimpft. Jungen Türken erzählt die Regierung, wir seien ein Land, das auf drei Seiten von Wasser und auf vier Seiten von Feinden umgeben sei. Paranoia, Misstrauen und Furcht greifen immer weiter um sich, die Kultur der Koexistenz erodiert.

Es war nur allzu verständlich, dass sich am Ende solch düsterer zwölf Monate viele Türken darauf freuten, die Ankunft des neuen Jahres als ein Zeichen der Hoffnung und des Neuanfangs zu feiern. Es war dieser Hauch von Optimismus, der im berühmten Istanbuler Nachtclub Reina zu Silvester Hunderte von Menschen, Türken und Ausländer gleichermaßen, zusammengebracht hat. Sie verkörperten die Art von Vielfalt, wie islamistische Fanatiker sie hassen. Der Terroranschlag vom 31. Dezember, bei dem 39 Menschen massakriert wurden und zu dem sich – sicher nicht zufällig – erstmals in der Türkei der IS offiziell bekannte, erschütterte ein Land, in dem Fanatismus, Bigotterie und Autoritarismus die Oberhand gewonnen haben. Der Graben zwischen den Säkularen und den Religiösen ist 2016 nochmals tiefer geworden. Am 30. Dezember, in einer Freitagspredigt, die landesweit in mehr als 80.000 Moscheen übertragen wurde, bezeichnete das staatliche Amt für Religionsangelegenheiten Neujahrsfeiern als „sündhaft“ und „illegitim“.

Dämonisiert wie nie

Vor dem Jahreswechsel hatten ultranationalistische und islamistische Gruppen in Istanbul Flyer verteilt, auf denen gegen Weihnachten und das Neujahrsfest Stimmung gemacht wurde. „Muslime feiern keine christlichen Feste“ war noch eine der harmloseren Schlagzeilen. In der Stadt Aydın inszenierte ein extremistischer Verein ein hasserfülltes, antichristliches Schauspiel, bei dem ein Weihnachtsmann gejagt und mit einer Waffe bedroht wurde. An anderen Orten war auf Plakatwänden ein Cannabis rauchender Santa Claus zu sehen. „Weihnachten ist ein Schlag gegen unsere muslimische Identität“, lautete der dazugehörige Slogan. In der Stadt Van wurden die Passanten auf einem großformatigen Plakat gefragt: „Haben Sie schon jemals einen Christen gesehen, der das islamische Opferfest feiert? Warum feiern wir ihre Feste?“ An der Technischen Universität von Istanbul versammelten sich Studenten mit Schildern, auf denen zu lesen war: „Lasst euch nicht vom Satan in Versuchung führen. Feiert kein Neujahrsfest!“ Zudem wurde plakatiert: „Es gibt kein Weihnachten im Islam! In muslimischen Ländern versuchen die Menschen zu überleben, in ihren Ländern geht es nur ums Feiern.“ Die Gruppe hatte einen aufblasbaren Weihnachtsmann dabei, auf den dann mehrmals eingestochen wurde.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass man in der Türkei bis vor kurzem noch stolz auf den heiligen Nikolaus war, der einst in Myra, dem heutigen Demre, lebte und inzwischen als Vorbild des Weihnachtsmannes von religiösen Extremisten geschmäht wird. Zuletzt wurde der Arme so sehr dämonisiert wie niemals zuvor. Die islamische Zeitung Milat verhöhnte ihn in einer Kolumne, in der behauptet wurde, sein roter Mantel sei mit dem Blut der Bewohner Aleppos getränkt. Den Kindern im Westen habe er Geschenke gebracht, denen in Aleppo aber Bomben und Tod.

Und selbst nach dem grausamen Massaker in der Bar Reina sind die hasserfüllten Stimmen nicht verstummt. TV-Kommentatoren erklären: „Wir sind dagegen, dass Alkohol getrunken und gefeiert wird. Wenn jemand einen solchen Ort in die Luft sprengen will, möge er dies tun.“

Es ist erstaunlich, dass in einem Land, in dem jeder, der auch nur die geringste Kritik an der Regierung übt, sofort verhaftet und vor Gericht gestellt werden kann, kaum jemals gegen religiöse und nationalistische Hassprediger vorgegangen wird – auch wenn die Regierung vor kurzem erklärt hat, man werde gegen 347 Nutzer sozialer Medien, die Terroranschläge in Kommentaren begrüßt hätten, Ermittlungen einleiten. Es herrscht eine solche Atmosphäre der Einschüchterung, dass der bekannte Journalist Ahmet Şık vor Wochen vorhergesagt hat, dass die Islamisten Silvesterfeiern ins Visier nehmen könnten. Heute sitzt Şık zur Strafe für seine Offenheit im Gefängnis.

Das Land befindet sich am Scheideweg. Oder hat ihn vielleicht schon passiert. Dass unsere Metropolen zu einer neuen Front für Terroristen geworden sind, hat ebenso sehr mit dem Verlust von Demokratie im Inneren zu tun wie mit den Fehlern der AKP-Regierung in Syrien. Wir haben einmal geglaubt, die Türkei könne in der muslimischen Welt eine Vorreiterrolle übernehmen und als leuchtendes Beispiel fungieren; jetzt besteht aller Grund zu der Annahme, unser Land könnte stattdessen denen folgen, die in der Region das schlimmste Beispiel kultureller Zerrüttung abgeben.

Elif Shafak lebt in London und zählt zu den meistgelesenen Schriftstellerinnen in der Türkei

Übersetzung: Holger Hutt

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Geschrieben von

Elif Shafak | The Guardian

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