Feminist ohne Amazonen

Kanada Premierminister Justin Trudeau wollte mehr Gleichheit. Doch im Land wächst der Gender Pay Gap
Ausgabe 28/2017

Der kanadische Premierminister Justin Trudeau gilt als Posterboy der Emanzipaton. Er ist ein selbsterklärter Feminist und machte vor zwei Jahren weltweit Schlagzeilen mit dem ersten Kabinett Kanadas, in dem ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis herrscht. Vor kurzem hat seine Regierung dann ihre „erste feministische Entwicklungshilfepolitik“ vorgestellt.

Doch wie sieht die Bilanz Kanadas abseits der publicityträchtigen Auftritte Trudeaus aus? In Sachen Geschlechtergerechtigkeit wird sie jetzt von eher unerwarteter Seite in Frage gestellt. Das McKinsey Global Institute, eine Forschungseinrichtung des Unternehmensberatungsriesen, hat festgestellt, an kanadischen Arbeitsplätzen herrsche eine „erhebliche Ungleichheit zwischen den Geschlechtern“.

In einem 124-seitigen Bericht heißt es, die Beseitigung dieser anhaltenden Ungleichbehandlung stelle eine „beträchtliche ökonomische Chance“ dar, durch die das kanadische Bruttoinlandsprodukt sich in den nächsten zehn Jahren um über 150 Milliarden Dollar steigern ließe. Es ist ein ökonomisches Argument. Eine McKinsey-Sprecherin sagte, Geschlechtergleichheit sei „nicht bloß ein moralischer Imperativ und nicht einfach nur das Richtige – es ist auch eine gute Geschäftspraxis“.

Seltener befördert

Die Lohnunterschiede liegen zum einen daran, dass Frauen in Jobs mit Niedriglöhnen, etwa in der Fast-Food- oder Hotelbranche, überproportional vertreten sind. Eine Studie unter Einzelhandelsangestellten in Ontario zeigte aber auch, dass Männer in den gleichen Jobs mehr verdienen und mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Vollzeitanstellung oder eine Führungsposition angeboten bekommen.

Die Problematik zieht sich durch alle Hierarchiestufen der Berufswelt: In den Vorstandsetagen dominieren Anzugträger, 95 Prozent aller Vorstandsvorsitzenden sind Männer. McKinsey hat 69 der größten kanadischen Konzerne untersucht und dabei herausgefunden, dass Frauen zudem seltener befördert werden.

„Die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen klafft bei allen Beschäftigungsarten und sogar bei Frauen in besser bezahlten Jobs“, sagt Trish Hennessy, Direktorin des Thinktanks Canadian Centre for Policy Alternatives. Besonders ausgeprägt sei das Gefälle aber für Migrantinnen und indigene Frauen. Ein Weg, die Lücke zu schließen, bestehe darin, „die Pflegearbeit von Frauen aufzuwerten“, betont Hennessy. Sie meint damit unbezahlte Hausarbeit, die Pflege von Familienangehörigen, aber auch bereits bezahlte Arbeit, etwa im Bereich der frühkindlichen Bildung. „Die Organisation in Gewerkschaften ist ebenfalls hilfreich“, sagt Hennessey. „Bei gewerkschaftlich organisierter Arbeit ist die Lohnkluft geringer.“

Entgegen dem von Trudeau nach außen vertretenen Image macht das Land bei der Lohnkluft zwischen den Geschlechtern Rückschritte: Im vergangenen Jahr fiel Kanada im weltweiten Global Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums auf Platz 35 zurück. 1995 befand das Land sich noch auf dem ersten Platz.

Die kanadische Wirtschaftswissenschaftlerin Armine Yalnizyan sagt, die Ungleichbehandlung der Geschlechter sei zwar in ganz Kanada ein Problem, innerhalb des Landes gebe es aber auch große Unterschiede. In der Provinz Saskatchewan etwa ist die Lohnungleichheit nicht so groß wie im benachbarten Alberta. Auch unter den jungen Leuten würden die Unterschiede geringer. Und: „Die größten Unterschiede bestehen zwischen Männern und Frauen, die nicht studiert haben.“

Höhere Mindestlöhne würden daher deutlich mehr Frauen als Männern zugute kommen und so zu einer Angleichung der Einkommen beitragen. Verbesserter Zugang zu Kinderbetreuung und frühkindlicher Bildung würde es mehr Frauen ermöglichen, eine Stelle anzunehmen. Zudem würden dadurch auch Arbeitsplätze geschaffen. Im McKinsey-Bericht heißt es, ein „wesentlicher Teil der Lösung für Kanada besteht darin, das immense unausgeschöpfte Potenzial von Frauen anzuzapfen“.

Auch wenn diese Ungleichheit zwischen den Geschlechtern natürlich bei weitem kein rein kanadisches Problem ist. Schätzungen zufolge sind weltweit gerade einmal 24 Prozent aller gehobenen Managementpositionen mit Frauen besetzt. In mehr als 120 Ländern dürfen Arbeitgeber Frauen bei Bewerbungsgesprächen Fragen zu Kindern und Beziehungsstatus stellen. Und in über einem Dutzend Staaten dürfen Ehemänner ihren Frauen immer noch verbieten, einen Job anzunehmen. Dabei ist es zu einer Art Zeitgeistargument geworden, zu sagen, die Geschlechtergleichstellung sei „gut fürs Geschäft“. In einem vergangenes Jahr veröffentlichten Bericht der schweizerischen Großbank UBS heißt es, es liege im Interesse von Unternehmen, Frauen zu befördern. Im Economist sind Artikel mit Überschriften wie „Girl Power – Geschlechtergleichheit ist gut für das Wirtschaftswachstum“ erschienen, weibliche Führungskräfte wie Facebook-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg rufen ihren Geschlechtsgenossinnen zu: „Hängt euch rein!“ Und verschiedene Kampagnen werben für mehr Frauen in den Vorstandsetagen.

In Kanada, so der McKinsey-Bericht, müssten mehr Frauen in Managerpositionen oder „hochproduktive“ Sektoren wie die Öl-, Bergbau- oder Technologiebranche vordringen. Und die Firmen müssten mehr tun, um Frauen über die „Firmenpipeline“ intern zu fördern.

Kanadischen Statistiken zufolge arbeiteten im Jahr 2015 82 Prozent aller Frauen im Alter zwischen 25 und 54 Jahren oder suchten eine Arbeit. Zum Vergleich: 1950 waren es 21 Prozent und 1983 63 Prozent. Es gibt in Kanada mehr Hochschulabsolventinnen als Absolventen. Dennoch sind Frauen in Niedriglohnjobs überrepräsentiert. Außerdem arbeiten sie eher in Teilzeit und jonglieren zwischen Job, unbezahlter Kinderbetreuung und anderweitigen häuslichen Verpflichtungen.

Hennessy zufolge sind kanadische Frauen so gut ausgebildet wie noch nie und „tragen zum Wirtschaftswachstum bei – doch solange die Gehaltslücke weiterbesteht, bleibt die Revolution unvollendet“.Die Bezahlung sei wichtig, aber genauso auch die Arbeitsbedingungen, sagt Hennessy. „Viele Jobs, in denen Frauen arbeiten, sind prekär: Sie arbeiten in Teilzeit oder gehen Gelegenheitsjobs nach, erhalten oft weder Zusatzleistungen noch Renten. Das bedeutet, dass sich die Gehaltslücke für sie bis zur Rente nicht schließt.“

Blinder Fleck der Diskussion

Kanada hat aber noch ein weiter reichendes Problem mit ökonomischer Ungleichheit. Im Januar kam ein Bericht von Oxfam zu dem Ergebnis, dass zwei der Milliardäre des Landes so viel besitzen wie das ärmste Drittel der Bevölkerung zusammen. Lauren Ravon, Policy-Direktorin bei Oxfam Canada, meint, die Situation von Frauen mit geringem Einkommen stelle einen „blinden Fleck“ in den Diskussionen über Geschlechterungleichheit am Arbeitsplatz dar. Die Debatte um Gleichstellung neige dazu, sich zu sehr auf Führungspositionen zu konzentrieren, dabei lägen die größten ökonomischen Möglichkeiten für Frauen in den am schlechtesten bezahlten Jobs.

„Die Gesellschaft muss die Arbeiten, die traditionell von Frauen erledigt werden, wie Erziehung oder Kinder-, Alten- und Krankenpflege, stärker wertschätzen“, so Ravon. Sie erwartet, dass die häusliche Pflege angesichts der alternden kanadischen Gesellschaft in Zukunft stark steigen wird.

Die Trudeau-Administration hat vor kurzem bekannt gegeben, sie wolle eine geschlechterbasierte Analyse ihrer Haushaltsausgaben vornehmen, um „für alle Kanadierinnen und Kanadier eine echte und spürbare Veränderung herbeizuführen“. Des Weiteren versprach sie, ein Gesetz zur Lohngerechtigkeit zu verabschieden, wurde aber dafür kritisiert, dies erst im kommenden Jahr umsetzen zu wollen.

Trish Hennessy vom Thinktank CCPA fragt sich: „Warum lässt sich Kanada nicht von Island inspirieren, wo die Administration einen Plan vorgelegt hat, die Einkommenslücke zwischen den Geschlechtern innerhalb von fünf Jahren zu schließen? Sich ein Ziel setzen, einen zeitlichen Rahmen abstecken, den Plan abarbeiten und umsetzen. So geht das.“

Claire Provost ist Redakteurin des Onlinemagazins openDemocracy 50.50 und schreibt außerdem für den Guardian

Übersetzung: Zilla Hofman

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Geschrieben von

Claire Provost | The Guardian

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