Die Zeit der Abrechnung ist schon gekommen, als Mary Gaitskills gerade mal hundertseitige Novelle einsetzt, sie erzählt darin abwechselnd aus der Perspektive eines Mannes und einer Frau. Quinlan Maximillian Saunders (genannt Q) und Margot (M) sind einflussreiche Buchlektoren in den USA. Beide erzählen, als würden sie eine Art Beichte ablegen, als lieferten sie eine Rechtfertigung angesichts des prüfenden Blicks der Welt oder – intimer – gegenüber den Leser:innen. Während Q sich mit seinem Verhalten auseinandersetzen muss, analysiert M die Freundschaft, die sie seit 20 Jahren verbindet. Ein Liebespaar waren die beiden nie. Diese Grenze war abgesteckt, seit M mit einer klaren Handbewegung stoppte, als Q ihr bei ihrem ersten Treffen zum Lunch zwischen die Beine fasste. Im Nachhinein hat sie ihn wegen dieses unmöglichem Verhaltens schon oft gescholten, sich aber auch darüber amüsiert.
Q ist Engländer, Dandy und mit einer schönen, reichen Erbin verheiratet. Ihn fasziniert nichts mehr, als sich Zugang zu den intimsten Gedanken von Frauen zu verschaffen und ihre verletzlichen Stellen zu nutzen, um ambivalente Beziehungen zu ihnen aufzubauen. Q werden sexuelle Übergriffe gegen Frauen vorgeworfen. Seine ungeschützten Kommentare M gegenüber spiegeln seine solipsistisch geprägte Analyse der Situation wider, seine Überzeugung, dass es keine Realität außerhalb des eigenen Bewusstseins gibt. Die Schuldfrage weist er von sich: „Sie sind ärgerlich darüber, was im Land und in der Regierung passiert. Weil sie den König nicht schlagen können, nehmen sie sich den Narren vor.“
Stillschweigende Komplizin
Q verliert seinen Job. Seine Familie nimmt Schaden. Er fühlt sich in seiner spirituellen Freiheit beschränkt, bewahrt dabei aber einen sein Ego stützenden Optimismus, dass sein Fall vor Gericht abgewiesen wird.
Was ist mit einer Abbitte? Tut es Q leid? Durch eine erstaunlich menschliche Charakterisierung lässt der Text Raum, sich in Q hineinzuversetzen, und manche Leser:innen werden das auch tun. Aber noch dringlicher sind sie dazu angehalten, Qs Verteidigungsversuche und seine Frauenfeindlichkeit zu erkennen. Hier bringt Gaitskill einen der am stärksten entmachtenden und frustrierenden Aspekte von sexuellem Missbrauch auf den Punkt: den oft unerfüllten Wunsch nach Aufklärung, Entschuldigung und nach echter Besserung der Täter.
M betreibt Gewissenserforschung über ihre Beziehung zu Q und ihre stillschweigende Komplizenschaft. Andere bewundern im Geheimen Ms Loyalität. Einige von Qs Anklägerinnen bedauern es hinterher, ihn angeklagt zu haben. Und M ärgert sich über die, die erst von Qs Förderung profitierten und ihn dann anklagten.
Es wird viel über Sex gesprochen in Das ist Lust. Sexuelle Handlungen dagegen sind selten. „Untreu“ – im Sinne von körperlichem Sex – wird Q seiner Frau nie. Diese ohrfeigt ihn zwar öffentlich, bleibt aber bei ihm. Sie scheint ärgerlicher darüber, dass er sich wie ein „Idiot“ verhält, dabei „nicht einmal ein Raubtier“ ist. M ist verärgert über Qs Umgang mit den Vorwürfen gegen ihn. Zwar praktiziert er kein Gaslighting in dem Sinne, dass er seinen Opfern suggeriert, ihre Reaktion auf seine Übergriffe sei verrückt; stattdessen beklagt er den Verlust ihrer Freundschaft. Auch im Rückblick hält M ihn aber für einen besseren Freund als viele ihrer weiblichen Vertrauten. Doch kann sie ihm vergeben, wenn er mit seiner Schuld nicht konstruktiv umgeht?
Vielleicht ist die eigentliche Frage, die die Autorin durch Margots Reflexionen aufwirft, warum Frauen oft besser als Männer darin sind, ihre Verantwortung und Mitschuld anzunehmen und sich selbst zur Rechenschaft zu ziehen?
Das Buch hat keine einfachen Antworten oder eindeutige moralische Positionen parat. Die Erzählstränge beziehen sich aufeinander, divergieren, stimmen sich zu oder widersprechen sich – und decken so gekonnt ein heiß umstrittenes Terrain ab. Gaitskill leistet dabei Hervorragendes: Sie destilliert aus dem Leid, der Wut, den empfindlichen Reaktionen und der gesellschaftlichen Nachjustierung, die mit der #MeToo-Bewegung verbunden sind, eine extrem starke, intelligente und nuancierte Erzählung. Aus dem Chor der Verurteilungen mit ihren Ähnlichkeiten, Spielarten, Auffassungen und Sichtweisen hebt sie eine einzelne Geschichte heraus, zeigt die Komplexitäten.
Es ist eine Meisterin der Kurzgeschichte nötig, um ein derart schwieriges Thema so zu verdichten und gleichzeitig Interpretationsspielraum zu lassen. Gaitskill hat eine phänomenale Gabe, wenn es darum geht, einen metaphysischen Mikrokosmos zu schaffen, sie bringt so mehr Klarheit in eine verwirrende Welt.
Info
Das ist Lust Mary Gaitskill Daniel Schreiber (Übers.), Aufbau 2021, 128 S., 18 €
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