Genozid? Das perlt ab

Myanmar Die Minderheit der Rohingya gehört zu den Verlierern in Asiens neuem Kalten Krieg
Ausgabe 41/2020
Einst stand sie unter Arrest, heute verteidigt Aung San Suu Kyi die Armee gegen den Vorwurf des Genozids
Einst stand sie unter Arrest, heute verteidigt Aung San Suu Kyi die Armee gegen den Vorwurf des Genozids

Foto: Sem van der Wal/ANP/AFP/Getty Images

Was es in diesem Land an ethnischen Säuberungen und versuchtem Völkermord gibt, ist ein Affront gegen jede Rechtsstaatlichkeit. Die vorrangig im Bundesstaat Rakhine begangenen Gräueltaten sind gut dokumentiert. Ein internationaler Top-Anwalt würde sie als moralisches Stigma für unser kollektives Gewissen bezeichnen, müsste er sich dieser Verbrechen annehmen. Doch die Gräuel reißen nicht ab, während Täter, deren Identität bekannt ist, ungeschoren davonkommen.

Warum das so ist, darauf sind mehrere Antworten möglich. Vielleicht ist das arme, isolierte Myanmar (einst hieß es Burma) als Staat nicht wichtig genug, um internationale Aufmerksamkeit zu rechtfertigen. Auch hat im westlichen Unterbewusstsein das Leben von Menschen einer größtenteils unsichtbaren, braunhäutigen muslimischen Minderheit keine Priorität. Schließlich fehlt es derzeit nicht an Rassismus, ethnischen Konflikten und davon ausgelösten Fluchtbewegungen. Oder liegt die Ignoranz womöglich an der Tatsache, dass es keinen anhaltenden Aufschrei gibt, der einem uralten Problem gilt: dem Unvermögen, Großmächte davon abzuhalten, verletzlichere Völker zu unterdrücken, um so eigenen Zielen zu dienen?

Suu Kyi in Den Haag

In Myanmar war über eine lange Zeit hinweg die Kolonialmacht Großbritannien bestimmend. Jetzt ist es China, das sich nicht daran stört, wenn die unkontrollierte Macht der Armee Myanmars, der Tatmadaw, das nationale Leben beherrscht, obwohl doch seit 2011 die wiederhergestellte Demokratie deren Autorität beschneiden sollte. Die Angriffe dieser Streitkräfte auf die Rohingya haben 2016 zu tausendfachem Tod geführt und eine Dreiviertelmillion Menschen zur Flucht nach Bangladesch gezwungen. Das schockierte die Welt, doch niemand wurde je zur Rechenschaft gezogen. Michelle Bachelet, Hohe UN-Kommissarin für Menschenrechte, warnte jüngst, dass die Armee in Rakhine weiterhin ungestraft Zivilisten töte und entführe. „In einigen Fällen wurden sie unterschiedslos angegriffen, was auf Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit schließen lässt.“

Als Myanmars wivchtigste zivile Politikerin Aung San Suu Kyi Ende 2019 vor dem Internationalen Gerichtshof (ICC) in Den Haag erschien, stieg die Hoffnung auf Sühne. Doch Suu Kyi wies Vorwürfe zurück, es habe einen vorsätzlichen Völkermord gegeben. Vielmehr handle es sich um „einen internen Konflikt“ zwischen der Armee, militanten Rohingya und bewaffneten Separatisten. Sollten sich dabei einzelne Soldaten schuldig gemacht haben, würden sie bestraft.

Im Januar forderte der Gerichtshof Myanmars Regierung auf, ihrer Verpflichtung nachzukommen, einen Genozid zu verhindern und „alle in ihrer Macht stehenden Maßnahmen zu ergreifen“, um das Töten und die Verletzung von Rohingya zu stoppen. Den Haag ordnete weiter an, die Armee dürfe keine Beweise für Verbrechen vernichten. Der ICC leitete sein Untersuchungsergebnis an den Sicherheitsrat weiter, doch blieb das wirkungslos. Laut Bachelet könne es durchaus zu Tötungen in noch größerem Ausmaß kommen. Satellitenbilder zeigen, wie das Militär die Ruinen von Kan Kya eingeebnet hat, ein Rohingya-Dorf, das vor drei Jahren schwer zerstört wurde. Ziel war es offenbar, diesen Ort – wie andere auch – von den Landkarten zu tilgen.

Unterdessen haben die Zeugenaussagen zweier Soldaten, die an der Rakhine-Kampagne beteiligt waren, schlimmste Befürchtungen bestätigt. Demnach ist das Militär für Massenexekutionen ebenso verantwortlich wie für Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen. Der Soldat Zaw Naing Tun sagte aus, sein vorgesetzter Offizier habe ihn angewiesen: „Töte alle, die du siehst, egal ob Kinder oder Erwachsene.“

In einer verspäteten Reaktion auf die verzweifelte Not der Rohingya forderten drei Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, angeführt von Großbritannien, Myanmar kürzlich auf, die Erwartungen des Internationalen Gerichtshofs zu erfüllen. Zudem verlangten sie eine sofortige Waffenruhe sowie die Beteiligung von Rohingya-Wählern an der Parlamentswahl im November, was zweifellos einen gewissen Fortschritt bedeuten würde. Die Interessengruppe Burma Campaign UK befürchtet freilich: „Ein solches Statement bringt nichts. Es perlt einfach ab.“

Chinas Tor nach Westen

Myanmar erreicht damit erneut einen toten Punkt. Einst wurden die Burmesen von Indien aus durch Großbritannien unterdrückt und ihrer Ressourcen beraubt. Jetzt schätzt China, Hauptunterstützer der Militärregierung, den strategischen Puffer und Wirtschaftsvasallen. Der Besuch von Präsident Xi Jinping im Januar verfolgte ein klares Ziel: den verarmten Nachbarstaat noch enger an Peking zu binden, um rivalisierende amerikanische, indische und europäische Interessenten zu verdrängen. Es kam während des Aufenthaltes von Xi zu etlichen Vertragsabschlüssen, vor allem zu Infrastrukturinvestitionen. Priorität hatte die Vollendung des Wirtschaftskorridors China–Myanmar, durch den die Volksrepublik den direkten Zugang zu einem Tiefseehafen im Golf von Bengalen erhält. Da es sich um eine Alternativroute zum Weg über das Südchinesische Meer und die Straße von Malakka handelt, eröffnet das für Chinas Außenhandel ein neues Tor nach Westen.

Myanmars Machthaber wissen natürlich um die Gefahren der inbrünstigen Umarmung, allein die Schuldenfalle steht weit offen. Aber der politische Beistand für die Generäle, die eigentlichen Machthaber in der Kapitale Naypyidaw, sichert ihnen anhaltende Straffreiheit. Zudem wagen es weder die USA noch die EU, mit zu viel Nachdruck auf eine menschenwürdige Behandlung der Rohingya zu drängen. Es könnten Pfründe und profitable Geschäfte in Asien verloren gehen. Man arrangiert sich lieber mit dem neuen Kalten Krieg, der dort geführt wird. Und so geht das Töten weiter, so skandalös das auch immer sein mag. Eine alte Lektion will neu gelernt sein: Viel Macht geht immer über Recht und Menschlichkeit.

Simon Tisdall ist Guardian-Kolumnist

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Simon Tisdall | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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