Jedes Mal, wenn er über die Ernährung in Großbritannien spricht, handelt er sich Ärger ein. Viele Briten erinnern sich noch an seine Kampagne gegen die Turkey Twizzlers, ein Putenfleisch-Fastfood-Produkt, das Bestandteil von Schulessen war.
Als Jamie Oliver auf dem Video-Bildschirm erscheint, wirkt er etwas genervt. Er befindet sich am Jamie-Oliver-Hauptsitz, hinter ihm ist eine Fotowand zu sehen, auf der eine überdimensionale Kellnerin jemandem eine Speisekarte reicht, einem – wie ich letztlich erkenne – jungen, sorglosen Jamie Oliver. Welch ein Kontrast zwischen den beiden Gesichtern des gleichen Mannes.
Er hat als Verkörperung des sorglosen jungen Typen begonnen, der das Leben genießt. Jetzt macht er den Eindruck eines erschöpften Mannes, der von einem Haufen Leute gleichzeitig gehetzt wird. Es ist auch meine Schuld – in vielerlei Hinsicht bin ich hier, um ihn zu nerven. Olivers große Leidenschaft – neben dem Essen selbst – ist der Kampf gegen Fettleibigkeit bei Kindern, ein Thema, das in Großbritannien gerade zu den Top-Nachrichten zählt, weil die Regierung eine neue Strategie zur Bekämpfung von Adipositas angekündigt hat. Unter anderem will sie Werbung für Junk-Food verbieten, Restaurants sollen auf der Speisekarte Kalorien-Angaben ausweisen. Oliver ist begeistert davon, genau wie vom Lösungsansatz des früheren Premierministers David Cameron zu der Frage. Nur der Brexit sei leider dazwischengekommen.
Ernährungsfalle Armut
Ich kann wirklich nicht nachvollziehen, wie Jamie Oliver so denken kann. Er weiß schließlich, dass Armut die Wurzel von Fettleibigkeit ist. Er zeigt mir sogar eine Grafik, die er in Gold geprägt und in einem goldenen Rahmen aufgehängt hat: Sie zeigt, dass Kinder aus armen Familien mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit adipös werden, dass sie – in seinen Worten – „weniger lang auf diesem Planeten leben als ihre wohlhabenden Freund*innen“.
Wie kann er zwei Premierminister, Cameron und Boris Johnson, preisen, die mit ihrer Politik Armut in Familien verursacht haben: durch Sozialhilfekürzungen bis hin zu Sanktionen, die Aufgabe von Zielen für die Armutsbekämpfung unter Kindern, um diese fröhlich durch die Einführung einer Tafel-Kultur zu ersetzen, die Arme mit kostenlosem Essen versorgt? Wie kann Oliver diese Politiker dafür loben, Fettleibigkeit bei Kindern ernst zu nehmen?
Als ich ihn damit konfrontiere, regt mich seine Antwort noch mehr auf: „Viele der Lebensmittel mit den meisten Nährstoffen auf der Welt sind billig“, sagt er. „Kein Grund zur Sorge. Ohne Bildung und Zugang bringt das allerdings nichts. Natürlich gibt es den Kostenfaktor, aber mit dem richtigen Wissen kann man die Kosten schlagen. Ich bin 25 Jahre lang um die Welt gereist, und die ärmsten Gemeinschaften haben immer die besten Gerichte. Ich kann Sie mit nach Costa Rica nehmen, nach Italien, in die Sozialwohnungen von Sardinien und Griechenland – das Essen wird Sie umhauen.“
Im Laufe unseres Gesprächs merke ich, dass meine Kritik ungerecht ist. Zwar kritisiert Oliver die Regierung nicht offen, aber er ist deutlich antikapitalistisch. 2019 hat er die Jamie Oliver Group, samt seinem verbleibenden Restaurantgeschäft, in eine „B Corporation“ umgebaut. Dieses Zertifikat gibt es nur für Unternehmen, die nach eigenen Angaben „die höchsten Standards an verifizierter sozialer und ökologischer Performance, öffentlicher Transparenz und rechtlicher Verantwortung vorweisen, um Profit und Zweck ins Gleichgewicht zu bringen“.
Nicht leicht, das Gütesiegel zu bekommen, oder, wie Oliver es formuliert: „Es ist verdammt schwer. Im Vergleich wirkt das Finanzamt wie Schmusekätzchen. Sie prüfen alles ganz genau.“ Seit Jahren beschäftigen ihn Fragen der sozialen Gerechtigkeit – die Nährstoffe im Schulessen, Arbeitsbedingungen, Karriere-Entwicklung und Berufschancen: „Wie wir unsere Mitarbeiter ausbilden, wie wir es ermöglichen, vom Topfwäscher zum Chefkoch zu werden“. Er schwört auf solche mühsamen Prozesse.
Er glaubt an Experten, Bürokratien, Regeln: „Wir sollten nicht einer Person vertrauen, die uns einen (Scheiß-)Dreck erzählt“, sagt er. „Wenn man sich die Rhetorik in der Geschäftswelt und im Handel anhört, wirkt es häufig so, als wenn komplett anständige Leute genau das Richtige sagen. Sie entwaffnen einen, wiegen einen in Sicherheit, und was wirklich los ist, kriegt die Öffentlichkeit gar nicht mit.“ Er vergleicht es mit einer Schnecke: „Man denkt, sie tut überhaupt nichts, aber wer sie im Zeitraffer beobachtet, erkennt, dass sie alles Mögliche macht ... essen, Nahrung suchen, Geschlechtsverkehr.“
Das bleibt unkonkret, wie wohl jede Aussage, die über eine komplexe Schnecken-Analogie transportiert wird – aber es klingt wie die Forderung nach einer vernünftigeren Wirtschaft und Politik. Gleichzeitig wird Oliver von der Rechten attackiert: für seine kindermädchenhafte Art; dafür, wie er gegen Fastfood vorgeht, uns Vorschriften macht, was wir tun sollen. Viel kann er jedenfalls nicht sagen, ohne dass die Boulevardpresse über ihn herfällt.
Seit er 2005 mit seiner Kampagne zur Verbesserung des britischen Schulessens anfing, geht das schon so. „Das war mein Training, zu lernen, ziemlich viel einzustecken, selbst wenn die Zeitungen Unsinn geschrieben haben. Bis heute werde ich beschimpft, weil es wegen mir keine Turkey Twizzler mehr gibt. Dabei haben wir nur Minimalstandards für Fleischprodukte in der Schule gesetzt, die es vorher nicht gab.“
Gurkensticks im Automaten?
Er kommt auf die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher. „Als sie in den 1980ern das staatliche Schulessen abschaffte und ein Ausschreibungsverfahren eröffnete, wurden die Kosten zum alleinigen Maßstab. Wenn man in diesem Land Hundefutter verkaufen wollte, gab es klare Standards. Wenn man sie nicht erfüllte, landete man vor Gericht. Aber es existierte nichts Vergleichbares für das Essen unserer Kinder. Das habe ich verändert. Wenn man es betrachtet, als wäre ich ein Drogendealer, dann habe ich das Produkt reiner gemacht, gab den Konsumenten besseres Werkzeug. Ich habe niemandem Fleisch weggenommen. Im Gegenteil: Ich habe für einen Minimalanteil von 65 Prozent Fleisch gesorgt!“
Die meisten seiner Gegner wissen das. Aber er hat seinen Ruf als einer dieser nervtötenden Promis weg, die sich für die Welt engagieren und sich weigern, einfach in ihrem eigenen Reichtum zu verschwinden. Daraus folgt eine gewisse Schadenfreude, vor allen Dingen, wenn es schlecht für ihn läuft, wie in letzter Zeit. Seine Restaurantkette Jamie’s Italian ging letztes Jahr pleite. Das kostete 1.000 Jobs. Es war ein schwerer Schlag.
„Ich wurde die letzten drei Jahre lang in den Hintern getreten“, sagt Oliver. Er habe versucht, aus dem Schlechten noch das Beste zu machen. Den Misserfolg hat er zwar überstanden. Dennoch sieht er seine Pleite als Teil einer größeren Entwicklung. „Ich habe immer gesagt: Was mir passiert, ist wie eine Wetterfahne dafür, was allen anderen passieren wird. Kann es gelingen, bestimmte Werte Teil des Mainstreams werden zu lassen? Kann man Werte in die Innenstadt bringen? Das kann heißen, mit kleinen Bauern zusammenzuarbeiten, Fleisch mit höheren Tierschutznormen zu kaufen, tatsächlich vor Ort zu kochen. Das bedeutet, dass man mehr Leute anstellen muss, und die muss man ausbilden. Aber ehrlich, wir haben es fast geschafft.“
In einem seltenen Anflug von Pessimismus äußerte sich Oliver über die Zukunft der britischen Restaurantbranche – nicht nur wegen Covid-19. Tatsächlich hat das Virus nichts damit zu tun. „Alle, bei denen es derzeit gut läuft, setzen auf Essen von relativ niedriger Qualität. Am meisten Sorge macht mir gerade, dass das Geschäft des Kochens und des Service in großer Gefahr ist. Weil man seine Rechnungen nicht bezahlen kann, wenn einem die Einhaltung bestimmter Werte wichtig ist.“
Seine Bereitschaft, ein Fass aufzumachen, hat das nicht geschmälert. Heute schießt er volle Breitseite gegen Verkaufsautomaten. „Interessiert sich irgendjemand für Verkaufsautomaten? Natürlich nicht. Dabei ist das ein großes Thema. An vielen Arbeitsplätzen, an denen es kein Mittag- oder Abendessen gibt, können die Mitarbeiter sich nur etwas im Automaten holen. Ich sage nicht, Sie sollen keinen Schokoriegel essen. Wenn Sie einen wollen, bitte sehr. Aber wenn man 5.000 Leute hat, die am Tag 999 Telefongespräche führen, in drei Schichten, ohne Essen, dann wäre es moralisch richtig, wenn diese Leute eine Wahl hätten. Wenn nur mieses Zeug zugänglich ist, ist das keine Demokratie.“ Wieder bin ich ein bisschen frustriert, weil die Debatte sich nur ums Essen dreht: Eigentlich geht es um Arbeitsbedingungen, die Verantwortung der Arbeitgeber. Und die Lösung ist nicht, Gurkensticks im Verkaufsautomaten zu platzieren, sondern dass die Leute einer Gewerkschaft beitreten.
„Tatsächlich kämpfe ich gar nicht gern“, erklärt Oliver. „Ich bin eigentlich eher schüchtern.“
Ich erinnere mich an die Anfänge. Es war ein frühes Interview mit Jamie Oliver, als er schon der Naked Chef war (siehe Kasten): Er kam auf seinem Roller zu meiner Wohnung, um dort Abendessen zu kochen. Ein sorgfältig durchdachtes Menü – inklusive individueller Schmelzschokolade. Es war unmöglich, ihn nicht zu mögen. Er setzte einem etwas vor, das man nicht erwartet hatte: Nudeln mit kandierten Früchten. Er weiß noch, wie – nach zwölf Jahren Karriere – ein Gangwechsel kam. „Ich schaute ungläubig in den Spiegel und sagte mir: ‚Verflixt, dieses Kind wuchs mit besonderem Förderbedarf auf.‘ Und da war ich. Ich besaß ein Haus. Ich hatte Millionen Bücher verkauft. Das hat nichts mit Angeben zu tun, nur mit meiner langen Beziehung zur Öffentlichkeit.“
Auch wenn ich mit einem Teil seiner Politik nicht einverstanden bin, würde ich niemals anzweifeln, dass Jamie Oliver versucht, Gutes in der Welt zu tun. Es sind nicht die Kämpfe, die ihn müde gemacht haben. Es sind die Zyniker, die auf den „Erwischt!“- Moment warten.
Ein paar Zutaten und Millionen Fans
In Großbritannien kennen ihn alle aus seinen Fernsehshows, in Deutschland haben die nur wenige gesehen, doch Jamie Olivers Bücher verkaufen sich auch hierzulande gut.
Seine Eltern betrieben einst ein Pub in Clavering, wo Jamie Oliver 1975 zur Welt kam. Weil der Junge es wegen einer Lese- und Rechtschreibschwäche in der Schule schwer hatte, half Jamie Oliver schon als Jugendlicher dort aus. Nach dem mittleren Schulabschluss ging er nach London, wo er am Westminster College im Rahmen einer schulischen Hauswirtschafts-Ausbildung das Kochen erlernte.
Vor mehr als 20 Jahren erschien sein erstes Buch The Naked Chef – und durch die gleichnamige BBC-Reihe, in der er mit bloßen Händen im Essen herumfuhrwerkte, wurde Jamie Oliver bekannt. Ein Fernsehteam hatte ihn bei der Arbeit im legendären „River Cafe“ in London entdeckt, einem der Vorreiter der neuen italienischen Küche.
In seiner ersten eigenen TV-Show fuhr er mit der Vespa über die Wochenmärkte, um frische Zutaten für seine „Quick and easy“-Essen zu besorgen. Die Gerichte sollten einfach und schnell gehen – das Format machte ihn zum Weltstar. Auch sein Unternehmen ist gewachsen: Mehrere Hundert Mitarbeiter kümmerten sich um seine Geschäfte. Jedes Jahr erschien ein neues Kochbuch. Mehr als 40 Millionen davon sind weltweit verkauft worden. Zuletzt erschien Veggies mit vegetarischen Rezepten. In Kürze erscheint sein neues Kochbuch 7 Ways (7-mal anders). Er hat dafür Studien zu den meistgekauften Zutaten ausgewertet, die die Briten und Britinnen Woche für Woche im Supermarkt erwerben.
Seit 2000 ist Jamie Oliver mit Juliette „Jools“ Norton verheiratet, die beiden haben fünf Kinder.
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