Im Namen des Sohnes

Italien Sizilianische Fischer lassen sich nicht daran hindern, Menschen zu retten
Ausgabe 33/2019

Kapitän Carlo Giarratano überlegt nicht lange, als er im Juli bei einem nächtlichen Fischfang vor der libyschen Küste verzweifelte Rufe von einem Schlauchboot hört. Etwa 50 Migranten ist der Treibstoff ausgegangen. Da der 36-jährige Sizilianer nach den Gesetzen der See lebt, gibt er den Menschen auf dem havarierten Boot an Wasser und Lebensmitteln alles, was er an Bord hat. Während sein Vater Gaspare die Rettung an Land organisiert, wartet Carlo fast 24 Stunden auf ein italienisches Küstenboot, das die Migranten nach Sizilien bringt. Die Nachricht von dieser Hilfsaktion geht um die Welt, nicht nur weil sie eine gute, sondern vor allem eine mutige Tat ist. Seit Innenminister Salvini Italiens Häfen für Schiffe, die Menschen auf Seenot retten, geschlossen hat, wissen die Giarratanos, dass sie mit einer heftigen Geldstrafe oder gar Gefängnis rechnen müssen. Kämen sie erneut in eine solche Situation, würden sie auch beim tausendsten Mal nicht anders handeln, sagen beide, die aus einer Familie kommen, die seit vier Generationen im Mittelmeer fischt. „Hätte ich diese Hilfeschreie ignoriert“, meint Carlo, „würde mir der Mut fehlen, wieder hinauszufahren. Wenn Menschen auf See in Not sind, müssen Seeleute helfen, ohne zu fragen, woher sie kommen oder welche Hautfarbe sie haben.“

Schlimmer als Gefängnis

Ich treffe die Giarratanos im Hafen von Sciacca an der Südwestküste Siziliens. Ich bin in dieser Gegend aufgewachsen, inmitten der niedrigen, bunten Häuser, die auf einem Felsen mit Blick zum Meer gebaut sind. Ich erinnere mich an die Giarratanos noch aus der Zeit, als ich mit meinen Freunden heimlich mit einem kleinen Fischerboot aufs Meer fuhr. Wir blieben in der Nähe des Piers und warteten auf die großen Kutter, die von ihren Touren vor der libyschen Küste heimkehrten. Diese Männer mit ihren müden Augen und der sonnenverbrannten Haut waren unsere Helden. Wir wollten sein wie sie, heroisch und furchtlos wie Kapitän Ahab aus Moby Dick und nostalgisch wie Ernest Hemingways „alter Mann“ auf dem Meer.

Die Fischer von Sciacca werden wie Halbgötter verehrt. Nur sie dürfen bei einer religiösen Prozession die eine Tonne schwere Madonna del Soccorso tragen. Die Gesetze der See zu ignorieren, bedeutet für viele Sizilianer, Gott zu ignorieren. Daher tragen die meisten Fischerboote den Namen von Heiligen und Aposteln. Das der Giarratanos hingegen heißt „Accursio Giarratano“. Das sei der Name seines Sohnes, erklärt Gaspare und hat Tränen in den Augen. „Er ist 2002 im Alter von 15 Jahren an einer schweren Krankheit gestorben. Jetzt leitet er mich, wenn ich auf See bin. Bei jeder Rettung ist Accursio anwesend.“

Nach diesem Verlust können die Giarratanos den Gedanken, dass andere Eltern, andere Brüder den gleichen Schmerz erleiden müssen, nicht ertragen. „Vergangenen November haben wir im gleichen Seegebiet 149 Migranten gerettet“, erzählt Carlo. „Nur wurde darüber nicht berichtet. Die italienische Regierung hatte zwar die Häfen für Rettungsschiffe schon geschlossen, aber das Sicherheitsdekret zum Asylrecht gab es noch nicht. Das wurde erst einen Monat später verabschiedet.“ Danach wird allen Migranten, die keinen Flüchtlingsstatus erhalten, jedoch aus anderen Gründen nicht nach Hause zurückkehren können, humanitärer Schutz verwehrt. Im Juni kam ein neues, wieder vom Innenminister angestoßenes Gesetz. Es verfügt, dass Seenotrettungsschiffen von NGOs, die Migranten nach Italien bringen, Strafen bis zu 54.000 Euro drohen, womöglich sogar Haft für die Besatzung. „Ich würde lügen, würde ich sagen, ich hätte nicht daran gedacht, im Gefängnis zu landen, als ich das Boot in Not sah“, sagt Carlo. „Aber ich wusste, ein beflecktes Gewissen wäre schlimmer als Gefängnis. Mich hätten die verzweifelten Hilfeschreie bis an mein Lebensende verfolgt.“ Es war drei Uhr morgens, als Giarratano und seine Crew auf die Verzweifelten stießen. Diese hatten Libyen am Vortag verlassen und waren schnell in Seenot geraten. „Sie hatten weder Rettungswesten noch Essen an Bord“, so Carlo. „Dann ging ihnen der Treibstoff aus, und ihr Boot hätte in wenigen Stunden die Luft verloren. Wer sich entschließt, unter solchen Bedingungen das Meer zu überqueren, riskiert bewusst sein Leben. Das bedeutet, was man zurücklässt, muss noch schlimmer – das muss die Hölle sein. Wir warfen ihnen zunächst einen Eimer rüber, damit sie das Wasser aus dem Boot schöpfen konnten. Wir hatten sonst nicht viel an Bord – nur dünnes Toastbrot und Wasser, aber sie brauchten es dringender als wir. Ich versprach ihnen, nicht wegzufahren, bis Hilfe in Sicht sei.“

Hand am Herzen

Das am nächsten gelegene EU-Land war Malta, aber dessen Küstenwache reagierte nicht auf das SOS. Stunden vergingen, und die Hitze wurde unerträglich.

An Land hatte Gaspare inzwischen die Presse kontaktiert. Auf ihm lastete nicht nur das Gebot, Menschen in Not zu helfen. Er wollte auch seinen Sohn beschützen. „Ich frage mich, weiß irgendeiner unserer Politiker, wie die verzweifelten Hilfeschreie auf hoher See in dunkler Nacht klingen? Was hätten sie getan? Kein menschliches Wesen – ob Seemann oder nicht – würde einfach abdrehen.“ Nach 24 Stunden kam endlich das italienische Küstenpatrouillenboot. Es brachte die Migranten nach Sizilien, wo sie kurze Zeit später von Bord gingen.

Carlo erreichte Sciacca am folgenden Tag und wurde von der Stadt als Held gefeiert. Gaspare war am Hafen, um seinen Sohn in die Arme zu schließen. Schüchtern und zurückhaltend beantwortete Carlo alle Fragen, wollte kein Held sein und erinnerte sich. „Als die Migranten sicher an Bord des Küstenschiffes waren, drehten sie sich alle mit einer Geste der Dankbarkeit zu uns um, die Hand am Herzen. Dieses Bild werde ich für den Rest meines Lebens aufbewahren. Damit kann ich jeden Tag wieder hinaus aufs Meer – ohne Reue.“

Lorenzo Tondo Autor des Buches Il Generale über den Menschenhändler Medhanie Yehdego Mered und Guardian-Korrespondent in Italien

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Lorenzo Tondo | The Guardian

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