Israel/Palästina: Unser Traum vom Frieden und sein Ende
Nahost 1997: Er war Palästinenser, ich Israeli. Eines Sommers hatten wir eine Vision: Verständigung. Als er kurz darauf während der zweiten Intifada starb, starb mit ihm auch meine Hoffnung
Palästinensische Jugendliche in Gaza suchen Schutz. Knapp vier Wochen dauerten die Tumulte im Oktober 2000 an
Foto: Thomas Coex/AFP/Getty Images
Am 11. Mai 2021 saß ich mit einer kleinen Gruppe von Leuten in einem Café im Süden von Tel Aviv und lernte Arabisch. Unser Lehrer war ein palästinensischer Bürger Israels. Er hatte uns erzählt, dass seine schwangere jüdische Frau und er immer wieder Absagen von Wohnungsbesitzern bekamen, die nicht an ein „gemischtes“ Paar vermieten wollten.
Der dreistündige Unterricht war fast zu Ende, als Sirenen einen Luftangriff ankündigten. Einige Tage zuvor waren von Gaza aus Raketen in Richtung Israel abgeschossen worden, aber an diesem Tag trafen sie zum ersten Mal Tel Aviv. Von der Angst vor einem Luftangriff abgesehen, hatte ich ein trauriges, bedrückendes Gefühl. Ich war vor Kurzem nach 15 Jahren Studium und Arbeit im Ausland zur
land zurückgekehrt, um in Israel zu leben. Ich erinnerte mich an eine Zeit Mitte der 90er, als ich geglaubt hatte, dass Israel ein anderer, gerechterer, weniger gewaltsamer Ort werden würde. Dieser Glaube war nichts mehr als eine sehr entfernte Erinnerung.Mein Glaube an Israels Zukunft war von einer Erfahrung inspiriert, die ich als Teenager mit einer Gruppe außergewöhnlicher Menschen teilte. Während wir darauf warteten, dass das Raketenfeuer aufhörte, musste ich besonders an einen dieser Menschen denken, jemanden, über den ich seit über 20 Jahren in meiner Heimat mit kaum jemandem reden konnte. Sein Name war Aseel Aslih.Als ich Aseel 1997 zum ersten Mal traf, war er 14 und ich 13. Er war ein palästinensischer Bürger Israels aus Arabba in Galiläa und ich ein Jude aus der Mittelmeerstadt Ashdod (früher das palästinensische Dorf Isdud). Für ein Sommercamp in den USA mit Teenagern aus Konfliktgebieten waren wir als israelische Delegierte ausgewählt worden.Ein paar Monate vor der Abreise besuchten wir beide ein Vorbereitungsseminar für die israelische Delegation. Wir wurden nicht sofort Freunde. Ich war dünn, trug Jeans-Latzhosen und verbrachte meine Zeit meistens mit Mädchen. Aseel war etwas größer, körperlich stärker und hatte schon Gesichtshaare. Ich fühlte mich damals in der Nähe von Jungs nicht besonders wohl, weil ich Angst hatte, dass sie meine Art zu reden kommentieren würden, die ich für zu weiblich hielt. Aber ich mochte Aseel, der eine einnehmende Ausstrahlung hatte. Er hatte die Angwohnheit, den Kopf leicht zur Seite zu neigen und wenn er lächelte hoben sich seine Wangen. Oft senkte er im Gespräch die Stimme und verengte die Augen, um Aufmerksamkeit einzufordern.Unsere Delegation für das Sommercamp „Seeds of Peace“ – Saat des Friedens – hatte das israelische Bildungsministerium bestimmt, das Jugendliche mit guten Führungsqualitäten und guten Englischkenntnissen suchte. Fremdsprachenkenntnisse sind häufig das Ergebnis von Privilegien, aber weder Aseel noch ich kamen aus reichen Familien. Aber unser Sprachtalent und unsere Neugierde machten uns zu interessanten Kandidaten.Die Organisation „Seeds of Peace“ wurde 1993 von den beiden Amerikanern John Wallach und Bobbie Gottschalk gegründet. Es war das Jahr, in dem die israelische Regierung und die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) die Oslo-Friedensabkommen unterzeichneten. Seeds of Peace wollte Verbindungen zwischen jungen Menschen aus Konfliktgebieten und damit die Basis für Verständnis in der Zukunft schaffen. Das Camp in einem ländlichen Teil von Maine bot typische Aktivitäten für Jugendliche wie Sport, Kunstprojekte und Talentshows; darüber hinaus gab es Dialog-Sessions, in denen Jugendliche aus feindlich gegenüberstehenden Gruppen miteinander über ihre Hoffnungen, Ängste und Traumata sprachen.Im Jahr 1997, in dem Aseel und ich zum ersten Mal dabei waren, kamen 120 Teilnehmer aus Israel, Palästina, Jordanien, Ägypten, Tunesien, Marokko, Katar und den USA zusammen. Finanziert wurde das Camp durch Unternehmenspartnerschaften, Einzelspenden und öffentliche Förderung. Es waren die 90er Jahre: Der Kalte Krieg war offiziell zu Ende, und die USA waren die führende Weltmacht, die sich dem Nahen Osten als Botschafter der Hoffnung präsentierte. Wir waren jung und nahmen alles mit. In ein Flugzeug gesetzt zu werden, um in ein Sommerlager zu fliegen – was konnte aufregender sein?Als wir im Camp aus dem Bus ausstiegen, umarmten uns die Teamer. Das Camp vermittelte ein Gefühl von Sicherheit, Wärme und Willkommensein. Die dicht belegten Stockbetten sorgten dafür, dass wir nur eine Armlänge voneinander entfernt waren. Unter Pinien luden Seminarräume dazu ein, miteinander ins Gespräch zu kommen. Doch schon am zweiten Tag kam auch ein Konflikt an die Oberfläche. Alle Delegationen standen vor ihrer Flagge und sollten ihre Nationalhymne singen. Aseel und ein weiterer palästinensischer Israeli weigerten sich. Einem Freund erklärte Aseel, er könne sich nicht mit einer Hymne identifizieren, die mit dem Satz anfing: „Solange noch im Herzen drinnen, eine jüdische Seele wohnt ... solange ist unsere Hoffnung nicht verloren.“ Ich war erstaunt über Aseels Kühnheit. Ich war homosexuell und versuchte damals immer, möglichst keine Aufmerksamkeit auf eine mögliche Andersartigkeit zu lenken. Und da war dieser Typ aus meiner Delegation, nur ein Jahr älter als ich, der seinen Ansichten Taten folgen ließ und sich furchtlos von der Masse abhob. Nicht ohne eine gewisse Eifersucht begann ich, ihn zu bewundern.Aber nicht alles, was Aseel tat, war bilderstürmerisch; er hatte auch eine Seite, die Spaß und Quatsch liebte. In unserem ersten Sommer war er der Co-Autor eines Liedes mit dem Refrain: „Kein Essen, kein Essen, kein Essen ... wie ich es hasse, im Speisesaal zu warten.“ Voller Selbstvertrauen sang Aseel die Textzeilen mit seinen Mitautoren bei einer Talentshow im Sommercamp. Das Camp hatte etwas, dass unsere junge Gruppe zum Glänzen brachte. Bei Seeds of Peace zu sein, gab einem das Gefühl, Teil der Geschichte zu sein. Jeden Tag versicherte uns Wallach, wir seien die künftigen Anführer der Menschen in unseren Ländern. Ich glaube, dass Aseel und ich das teilten: das berauschende Gefühl, uns selbst als Agenten des Wandels zu verstehen.Beide Welten anführenTatsächlich veränderte Aseel bereits etwas. Seine Weigerung, die israelische Hymne zu singen, war die erste von mehreren Handlungen, die die Erwartungen der Leiter der israelischen Delegation nicht erfüllten. Jede Gruppe wurde von drei bis fünf Regierungsvertretern begleitet. Sie sorgten auch dafür, dass die Schüler:innen in der offiziellen Version der historischen Ereignisse geschult waren. Die Leiter der israelischen Delegation hatten parteitreue Ansichten über den Krieg von 1948, palästinensische Flüchtlinge und über Siedlungen. Aber Aseel kannte die Geschichte der Palästinenser und bestand darauf, sie zu erzählen.Placeholder image-2Nach unserem ersten Sommer im Camp teilte das Bildungsministerium Seeds of Peace mit, Aseel dürfe im nächsten Jahr nicht wieder ins Camp kommen. Daraufhin lud die Organisation ihn ein, 1998 als eigene Delegation teilzunehmen. Delegation Aseel Aslih. Als Jude, dessen Familie aus Algerien und Marokko stammt, hatte ich eine Ahnung davon, wie hart es war, mit einer arabischen Identität in der israelischen Gesellschaft zu leben. Meine Großmutter Hajila nannte sich in Israel mit ihrem französischen Namen Alice, während mein Vater statt Anjel Makhluf den jüdischen Namen Mordechai benutzte. Es war einfacher. Aseel zeigte mir – und der ganzen israelischen Delegation –, dass es möglich war, für seine Identität einzustehen.In diesem ersten Jahr bekam ich einen kleinen Einblick darin, was Palästinenser und Israelis verbinden könnte. Unsere Beziehungen würden immer kompliziert sein, aber wir entdeckten, dass wir viel gemeinsam hatten. Wir hatten uns viel zu sagen. Doch als die Tragödie in diese Freundschaften einbrach, sollte es keine Möglichkeit geben, darüber zu sprechen. Viele Jahre in meinem Leben wurde der lebhafte und hoffnungsvolle Austausch dieser Teenagerzeit durch Schweigen verdrängt.In den folgenden Jahren kehrten Aseel und ich jeden Sommer in das Camp zurück. Wir gehörten zu einer Gruppe leitender junger Leute in der Organisation. Da war Tarek aus der jordanischen Delegation, der aus einer Familie palästinensischer Geflüchteter stammte. Aseel und ich blickten beide zu Tarek auf, der ein paar Jahre älter war als wir und schon sehr weltmännisch. Außerdem gehörte Alia aus der palästinensischen Delegation dazu, mit der ich mich sofort anfreundete und stundenlang herumalbern konnte.Am Ende des Sommers 1997 kehrten wir in den Nahen Osten zurück. Ein dreifacher Selbstmordbombenanschlag auf Jerusalems Ben-Yehuda-Promenade hatte gerade vier Menschen getötet. Die Stimmung in Israel war angespannt. Unter dem Friedensprozess von Oslo hatte Israel sich aus Jericho, Gaza und dem Großteil von Hebron zurückgezogen. Manche Israelis betrachteten das als Betrug an den Sicherheitsinteressen des Landes; andere als Betrug des biblischen Pakts mit Gott. Religiöse und rechte Ideologen organisierten Massenproteste gegen die Oslo-Abkommen. Der Ministerpräsident von der Arbeitspartei, Yitzhak Rabin, der die Oslo-Friedensabkommen unterschrieben hatte, reagierte auf die Unruhen und die Gewalt mit deutlichen Einreisebeschränkungen für Palästinenser aus der Westbank und Gaza nach Israel. Diese Politik brachte neue Genehmigungsstufen und physische Barrieren. Als Kinder der 80er wurde meine Generation Israelis und Palästinenser in zumeist getrennte Städte hineingeboren; die 90er machten den Austausch noch schwieriger. In einer jüdischen Stadt zu leben und neue palästinensische Freunde zu haben, war sehr außergewöhnlich.Ein 15-jähriges palästinensisches Mädchen aus der Israeldelegation von 1997 empfand die Heimkehr als besonders belastend. Sie schickte dem Seeds-of-Peace-Magazin einen Brief mit dem Titel „Gefangen zwischen Welten“, in dem sie schrieb: „als Palästinenserin, die in Israel lebt ... finde ich es interessant, aber auch schwierig, diese beiden Seiten in mir zu haben. Können diese Welten zusammenleben? Bin ich seltsam?“ Aseel antwortete darauf mit einem offenen Brief: „Ich finde nicht, dass du gefangen bist ... Wir müssten nicht gefangen sein; wir können beide Welten anführen.“ Selbst unter den verwirrenden Bedingungen in unserer Heimat, in die wir zurückkehrten, war Aseel bereit, uns den Weg zu weisen.Er war der Star des AbendsAuch wenn ich seinen Mut bewunderte, war ich manchmal geschockt, was er sich öffentlich zu sagen oder tun traute. 1999 eröffnete Seeds of Peace ein Zentrum in Jerusalem und Aseel wurde gebeten, die Moderation zu übernehmen. Vor hunderten Leuten führte er einen Sketch auf, in dem er „merkte“, dass er nicht das grüne Seeds of Peace-T-Shirt trug und dann seine Sachen auszog, um zu zeigen, dass er darunter das grüne T-Shirt und Shorts anhatte. Aseel war über 1,80 Meter groß und athletisch gebaut, sein Haaransatz ging schon zurück; er sah mehr aus wie ein Mann als ein Junge. Aber er scheute sich nicht, sich zum Narren zu machen, während ich im Publikum peinlich berührt war von etwas, das im Rückblick eine sehr witzige Darbietung war.Seeds of Peace hatte jetzt einen Ort in Jerusalem, das „Zentrum für Zusammenleben“, in dem Palästinenser und Israelis sich offen treffen konnten, und Aseel war der Star des Eröffnungsabends.Die Mitarbeiter von Seeds of Peace in Israel organisierten auch Aktivitäten für Jugendliche, die außerhalb von Jerusalem stattfanden. Dafür wurde ein Fahrer angeheuert: Sami Al Jundi, der aus Jerusalem stammte und sich mit den Sprachen, der Kultur, den Leuten und Straßen der Stadt auskannte. Kurz nach dem ersten Sommercamp holte uns Sami in einem Ford-Transit ab und brachte uns über Checkpoints und Grenzen. Danach hatten die jungen Camp-Alumni jeden Monat etwas vor und Sami brachte uns hin – ob nach Nahariya an der libanesischen Grenze oder nach Beit Sahour in der Westbank. Die amerikanische Organisation hatte Beziehungen, die den Weg durch Staats- und Militärbürokratie ebneten, und Sami wusste, wie er uns sicher zu unseren neuen Freunden brachte. Auf den Fahrten mit Samis Transit schrumpften die Grenzen zwischen jüdischen und arabischen Gebieten. Damals ging ich davon aus, dass diese Grenzen sich mit der Zeit weiter verringern und letztlich verschwinden würden.An einem Wochenende brachte Sami einige Jugendliche in das Haus meiner Familie in Ashdod, darunter Tarek und andere aus Jordanien. Aseel kam aus Galiläa dazu. Die jordanischen Gäste und Aseel blieben über Nacht. Da Aseel und ich die israelischen Gastgeber waren, gaben wir den Jordaniern die Schlafzimmer und teilten uns die weiße Couch meiner Mutter. Es war eine lange, breite Couch, auf die wir beide passten, wenn wir Kopf an Fuß lagen. Wir schliefen vor dem Fernseher ein. Nachts wachte ich irgendwann auf und roch den Gestank von Aseels Füßen. Ich wurde wütend und nahm mir vor, mich am Morgen zu beschweren. Am morgen setzte Aseel sein typisches Lächeln auf, wenn er etwas Kontroverses zu sagen hatte und erklärte, der Geruch meiner Füße habe ihn aufgeweckt. Wir lachten – und sprachen dann über die amerikanische Comedyserie South Park.Das Jahrzehnt hatte mit Friedensverträgen begonnen; jetzt begann es, außer Kontrolle zu geraten. 1995 war Ministerpräsident Yitzhak Rabin von einem rechtsextremen Aktivisten ermordet worden, der den Friedensprozess stören wollte. Sieben Jahre nach den Oslo-Abkommen kam der neue Ministerpräsident von der Arbeitspartei, Ehud Barak, zum Schluss: Gelänge es ihm nicht, innerhalb eines Jahres die Unterzeichnung eines Friedensabkommens zu erreichen, dann könne das niemand.Im Jahr 2000 sagte er, auf der palästinensischen Seite gebe es „keinen Partner“ für Verhandlungen. Die Anti-Kompromiss-Aktivisten in Israel fühlten sich darin bestätigt, was sie schon immer gesagt hatten: Juden dürfen Palästinensern nicht vertrauen. Wenige Monate später besuchte der politische Veteran der Rechten, Ariel Sharon, das Al-Aqsa-Moschee-Gelände in Jerusalem, das auch der heilige Boden des jüdischen Tempelbergs ist.Sharon wusste, dass die muslimischen Anführer auf seinen Besuch reagieren würden, indem sie zur Verteidigung Jerusalems aufrufen: Später sagten seine Berater in einem Dokumentarfilm, dass sie die Palästinenser verärgern und vor der anstehenden Wahl Medienberichterstattung erreichen wollten. Am 28. September 2000, dem Tag von Sharons einstündigem Besuch, gingen zahlreiche palästinensische Demonstranten auf die Straße, einige warfen Steine auf das Gefolge des Politikers.Innerhalb von 48 Stunden eskalierten die palästinensischen Proteste in Straßenblockaden, Brandstiftung und sporadische Angriffe auf Juden. Die Polizei reagierte mit Gewalt. Hochrangige Polizeioffiziere riefen dazu auf, Gummigeschosse, scharfe Munition und Scharfschützen einzusetzen. Es war eine nie da gewesene Eskalation des Gewalteinsatzes gegen Bürger. Ein palästinensischer Demonstrant wurde von einer Nachrichten-Crew gefilmt, als er einen Militär-Scharfschützen fragte: „Warum schießen Sie auf uns? Wir sind hier nicht in den besetzten Gebieten. Wir sind Bürger!“ Seine Worte spiegelten den Schock einer Bevölkerung, die erlebte, dass die Sicherheitskräfte ihres eigenen Landes mit scharfen Waffen gegen sie vorgingen.„Sie haben mich umgebracht“Am 1. Oktober wurden drei palästinensische Israelis im Alter zwischen 18 und 23 Jahren erschossen. Am folgenden Tag gab es eine Demonstration in Aseels Heimatstadt Arabba in Galiläa. Aseel, der damals 17 war, lief in seinem grünen „Seeds of Peace“-T-Shirt auf sie zu. Sein Vater, der bereits dort war, erzählte, dass sich Aseel ein Stück abseits von der Menge hielt. Er trug keinerlei Waffen bei sich. Plötzlich kam ein Polizei-Jeep angerast. Vier Polizisten sprangen heraus. Damals war es eine übliche Taktik der Polizei, sich einen Demonstranten herauszupicken, um die anderen in die Flucht zu jagen. Einige der Polizisten sagten später aus, die Tatsache, dass Aseel allein stand, habe ihn verdächtig erscheinen lassen. Ich nehme an, es machte ihn auch zu einer leichten Zielscheibe.Die Polizisten rannten auf Aseel zu. Als er fliehen wollte, verfolgten sie ihn, einer schlug ihm mit dem Gewehr auf den Rücken. Dann schossen sie Aseel in den Hals. Er fiel, das Gesicht nach unten. Als er blutend dort lag, wandten sich die Polizisten ab. Aseels Cousin rannte zu ihm und hörte ihn sagen: „Sie haben mich umgebracht.“Als der Seeds of Peace-Regionalleiter Ned Lazarus anrief, stand ich zuhause neben der Couch, auf der Aseel und ich geschlafen hatten. “Aseel ist tot”, sagte Ned. “Was?”, antwortete ich. „Nein. Sie müssen sich irren.”Ich hörte nur gedämpfte Echos von Neds Worten. Der 17jährige, der sich gegen Autoritäten aufgelehnt hatte, der beide Seiten anführen wollte, der seine Klamotten vor hunderten Leuten auszog, um Gelächter zu erzielen, der mein Freund war. Tot.Dreizehn palästinensische Männer wurden im Oktober 2000 von Polizisten getötet. Zwölf von ihnen waren israelische Staatsbürger, einer kam aus Gaza und arbeitete in Israel. Es gab ein jüdisch-israelisches Opfer. Der Mann wurde getötet, als er unter einer Brücke durchfuhr und palästinensische Demonstranten einen Stein auf sein Auto warfen. Diese Ereignisse markierten den Anfang der zweiten Intifada, einer gewalttätigen Phase, die viereinhalb Jahre dauerte und rund 3.000 Palästinensern und 1.000 Israelis das Leben kostete.Viele in der israelischen Gesellschaft nahmen die Ereignisse vom Oktober 2000 als Beweis dafür, dass die Friedensabkommen eine Illusion seien: Die Palästinenser hätten die Juden nie hier gewollt. Die Sicherheit, die der Staat bot, wirkte zerbrechlich. Waffengeschäfte berichteten davon, dass der Absatz nach oben schnellte. Am 7. Oktober entführte die libanesische Hisbollah drei Menschen, darunter einen israelischen Soldaten aus Tiberias in Galiläa; jüdische Bürger in seiner Heimatstadt gingen auf die Straßen, zerstörten arabische Geschäfte und zündeten eine Moschee an.In meiner jüdischen Highschool hatte ich das Gefühl, dass niemand etwas über den Tod meines palästinensischen Freundes hören wollte. Selbst Leuten, die mich liebten, fiel es schwer, über Aseel zu sprechen. Die Tatsache, dass Aseel ein Palästinenser war, der von einem Polizisten getötet wurde, machte das Sprechen darüber zu einer politischen Angelegenheit. In diesen Zeiten fühlte sich ein Gespräch über Aseels Verlust und meine Trauer wie ein Tabu an.Beim Abendessen mit meiner Familie erzählte ich, was Aseel geschehen war. Mein Schwager, den ich liebe, fragte: „Was lässt dich annehmen, dass er ohne Grund erschossen wurde?“Die Familie meines Schwagers stammt wie die meiner Mutter aus Algerien. Von dort flohen Juden während des Unabhängigkeitskriegs Mitte des 20. Jahrhunderts. Unsere Eltern kamen nach Israel, weil es versprach, ein sicherer Hafen für Juden zu sein. Zuzugeben, dass ein Palästinenser illegal von einem Polizisten erschossen wurde, bedeutete, dass der Staat ein ungerechter Aggressor ist. Es bedeutete, dass wir – mein Schwager und ich, unsere jüdische Gesellschaft in Israel – vielleicht nicht das Recht auf unserer Seite hatten. Aber Aseel war mein Freund und meine Verwirrung verwandelte sich schnell in Wut. Ich schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie meinen Schwager an. Ich warf ihm vor, über jemanden zu urteilen, den er nie getroffen hatte. In diesem Augenblick gab ich nicht nach. Aber fortan sprach ich nur noch über meinen toten Freund mit Leuten, bei denen ich mich sicher fühlte. Ich wurde zurückhaltender, vorsichtiger.Während ich Schwierigkeiten hatte, in jüdischen Kontexten über die Ereignisse im Oktober 2000 zu sprechen, protestierten die Familien der Opfer gegen den Tod ihrer Söhne. Aseels Vater spielte für TV-Kameras nach, wie sein Sohn gejagt und erschossen wurde. Ich schaute mir die Szene viele Male auf Youtube an. Beim ersten Mal stellte ich mir vor, wie es für Aseel in seinen letzten Sekunden gewesen war, wie viel Angst er gehabt haben musste. Je älter ich wurde, desto mehr dachte ich darüber nach, wie es für Aseels Vater war, Zeuge des Todes seines Sohnes zu werden und den Ablauf für die Kameras zu wiederholen. Die israelischen Medien verstanden die Botschaft: Hier war ein unschuldiges Opfer. Und doch war es eine verzerrte Botschaft, die behauptete, dass der Friedensaktivist Aseel das einzige unschuldige Opfer sei. Am Ende ordnete Ministerpräsident Barak eine offizielle Untersuchung der Ereignisse im Oktober 2000 an.Während der Anhörungen vor der Or-Kommission kam es zu Widersprüchen bei den Aussagen der Polizisten. Als die Kommission einen seiner Verfolger damit konfrontierte, sagte er: „Dass unsere Aussagen nicht zusammenpassen, beweist nur, dass wir unsere Geschichten nicht abgesprochen haben.“ Das zynische Argument überraschte mich nicht. Ich hörte diesen Zynismus jedes Mal, wenn ich das Thema auf Aseel brachte. „Schlimm, dass er gestorben ist, aber du weißt nicht, was wirklich passiert ist.“ Zunehmend legte ich mir zurecht, was und wie ich es sagen würde, wenn das Thema Oktober 2000 aufkam. Ich stellte mir vor, dass Leute zu mir sagten: „Kanntest du ihn wirklich so gut, wie du denkst?“Ich war vorsichtig, wer mich hören könnte und wer herausfinden könnte, was ich gesagt hatte. Ich gab der Angst davor nach, was Andere über mich sagen könnten und verbarrikadierte mich hinter einer Mauer des Schweigens.Placeholder image-12001 – die Untersuchung durch die Or-Kommission lief noch – schloss ich die Schule ab und wurde zum Militär eingezogen. Nach Aseels Tod konnte ich nicht mehr an die Weisheit und Führungskraft unserer Generäle glauben, aber ich konnte mir dennoch nicht vorstellen, den Militärdienst zu umgehen. Er war mein ganzes Leben lang ein fester Teil der israelischen Kultur gewesen und die zweite Intifada wirkte nicht wie der Zeitpunkt, um sich herauszuziehen. Allein im März 2002 wurden 135 Israelis von Selbstmordattentätern getötet. Ich ging zur Marine und diente – wie die meisten jüdischen Männer – drei Jahre, während Frauen zwei Jahre Militärdienst leisteten. Viele Palästinenser empfanden es als Affront, dass ihre israelischen Freunde überhaupt zum Militär gingen; Soldaten können dazu beauftragt werden, staatliche Gewalt gegen Palästinenser an Straßenkontrollpunkten oder bei ihnen zu Hause auszuüben. Viele Freundschaften und Verbindungen gingen auseinander.Die Jahre, in denen wir in Sami Al Jundis Van Grenzen überquert hatten, waren lange vorbei. Die meisten amerikanischen Mitarbeiter des Seeds of Peace-Büros in Jerusalem, junge Leute in ihren Zwanzigern oder Dreißigern, verließen nach und nach das Land. Die Organisation sprach davon, ihre Aktivitäten zu beenden. Sami, der als Fahrer angefangen hatte und jetzt Mitarbeiter war, machte das unendlich traurig. Bevor er zu Seeds of Peace kam, hatte er in einem israelischen Gefängnis nur 30 Minuten von meinem Zuhause gesessen. 2011 veröffentlichte er seine Memoiren The Hour of Sunlight – deutsch: Die Stunde des Sonnenlichts – , die er zusammen mit Jen Marlow geschrieben hat. Darin erzählt Sami, wie er als 18-jähriger bei sich Zuhause gemeinsam mit zwei Freunden eine Bombe zusammenbaute, die sie gegen Israelis einsetzen wollten. Die Bombe explodierte aus Versehen und tötete einen seiner Freunde. Sami wurde für zehn Jahre ins Gefängnis geschickt und kam erst mit Ende zwanzig wieder frei. Für uns hatte er sich ein anderes Leben erträumt. Als Seeds of Peace überlegte, das Zentrum in Jerusalem zu schließen, fragte er sich: „Wie kann eine Trennung unserer Gemeinschaft von Friedensstiftern Frieden zu erreichen?“ Es war eine rhetorische Frage, auf die er die Antwort kannte. Schließlich schloss die Organisation das Zentrum, dessen Eröffnung Aseel moderiert hatte, wenige Monate, bevor er erschossen wurde. Am gleichen Tag erhielt Sami die Kündigung.Die durch Seeds of Peace entstandenen Beziehungen gaben mir auch weiter einen Einblick darin, wie Leute außerhalb von Israel die Ereignisse des Oktober 2000 erlebten. Tarek, unser Freund aus dem Camp, der in Jordanien aufwuchs, besuchte ein Internat in Europa, als er erfuhr, dass Aseel getötet wurde. Ich traf Tarek 2005 bei einer Seeds of Peace-Alumni-Veranstaltung, aber ich konnte mich nicht dazu bringen, ihn auf Aseel anzusprechen. Das war eine andere Art von Schweigen. Wir waren Aseels Freunde gewesen, aber ich war Israeli und Tarek palästinensischer Jordanier. Ich wusste nicht, ob er mit mir über Aseel sprechen wollte. Und zu fragen, traute ich mich nicht.Eine andere Freundin aus dem Sommercamp, Alia, lebte in der besetzten Westbank. Israels wechselnde Politik machte Reisen für sie fast unmöglich. Nach der zweiten Intifada schlug sie mir vor, sie in Jerusalem zu treffen und dabei meine Militäruniform zu tragen. Ich wusste, dass es uns beide traurig machen würde, aber Alia handelte immer sehr mit Bedacht. Daher kam ich in meiner khakifarbenedn Marineuniform.Es war Anfang Winter. Die Straßen des French Hill-Viertels waren von hellem Licht erfüllt. Alia und ich sprachen über ganz normale Dinge, darüber, was sie nach der Uni plante und was ich nach dem Militär vorhatte. Wir näherten uns dem Gebäude, das einmal das Seeds of Peace-Zentrum war. Jetzt war es eine schmerzhafte Erinnerung an die Vergangenheit: vor der Intifada, vor der Schließung des Zentrums, die Zeit, bevor Aseel erschossen wurde.2003 veröffentlichte die Or-Kommission ihre Ergebnisse. Sie empfahl Disziplinarschritte gegen verschiedene hochrangige Politiker und Polizeioffiziere für den Einsatz scharfer Munition. Aber die Polizisten, die die Opfer erschossen hatten, fielen in den Zuständigkeitsbereich der Behörde für interne Polizeiuntersuchungen. Die Ermittlungen zu den Tötungen vom Oktober 2000 waren nicht besonders tiefgehend. 2006 verkündeten schließlich der Chef der internen Polizeiuntersuchungen und die Staatsanwaltshaft, dass keiner der an den Todesfällen im Jahr 2000 beteiligten Polizisten vor Gericht gestellt werden würde.Jahrelang hatte ich gewusst, dass die Leute um mich herum nicht wissen wollten, was mit Aseel passiert ist. Jetzt wusste ich, dass das auch auf das Justizsystem zutraf.Mit Mitte 20 verließ ich Israel. Aseels Tod und die Intifada waren niederschmetternd. Durch Seeds of Peace hatte ich die Erfahrung gemacht, wie groß die Welt ist, und wollte Teil davon sein. Aber auch als Student der Neurowissenschaften in den USA konnte ich meine Wurzeln nicht abschütteln: Ich beschäftigte mich mit den Auswirkungen von Dialog auf Palästinenser und Israelis. Meine Abschlussarbeit widmete ich Aseel. Nach der Universität wurde ich Dokumentarfilmer und begann Filme über Technologie in London, Hongkong und New York zu drehen. Unter anderem machte ich einen Film über einen US-Amerikaner, der die Menschen satt hatte und versuchte, die erste wirklich intelligente KI zu bauen. Als Machine of Human Dreams 2016 herauskam, dachte ich an Aseel, der – wie ich – viele Stunden seiner Jugend vor Computern und mit den Möglichkeiten des Internets verbrachte. Wäre Aseel am Leben, fragte ich mich, hätte er sich meinen Film angesehen? Hätte er ihm gefallen? Wären wir immer noch Freunde gewesen? Das ist nicht unser Traum2019 zog ich zurück nach Israel. Jetzt bin ich Ende 30 und lebe in Tel Aviv. Vor einiger Zeit nahm ich an einer Demonstration gegen die Vertreibung von palästinensischen Familien aus dem Viertel Sheikh Jarrah in Jerusalem teil. Wir standen in einem Trommelkreis; in der Mitte tanzten Kinder. Es war nicht wirklich ein gewalttätiger Mob. Plötzlich erschienen Polizisten in Kampfanzügen und mit Gewehren. Sie liefen durch unsere Gruppe und starrten uns feindselig an, während sie dicht an uns vorbeigingen. Ich hatte Angst. Ich dachte, sie könnten einem von uns das Gleiche antun wie Aseel. Ich fragte mich auch, ob mein Gesicht für die Polizisten eher jüdisch oder arabisch aussieht? Und wenn ich darüber nachdenke, stellt sich die Frage, wie viele es vermieden haben, gemeinsam mit Palästinensern zu demonstrieren, um nicht in eine Gewaltsituation zu geraten?In den zwei Jahrzehnten seit Oktober 2000 hat sich der Teufelskreis von Landaneignung, Gewalt und Trauma nur noch verschlimmert. Mir wurde klar: Um wieder in der israelischen Gesellschaft zu leben, musste ich über Aseel sprechen, über unsere Freundschaft und das schmerzhafte Schweigen, das seinen Tod umgab. Ich kontaktierte alte Freunde und schlug ihnen die Idee vor, einen Dokumentarfilm darüber zu drehen. Von meinen palästinensischen Freunden wollte kaum einer vor der Kamera sprechen. Einer erklärte mir, selbst wenn er mir bei dieser Geschichte vertrauen würde, könne es seinen Ruf schädigen, am Film eines israelischen Regisseurs mitzuwirken. Unweigerlich würde ihm jemand auf den sozialen Medien vorwerfen, die Besatzung, die staatliche Gewalt, die Ausweitung der Siedlungen zu verharmlosen.Mir wurde klar, dass die Palästinenser ihre eigenen Themen haben, über die geschwiegen wird. Durch meine Filmarbeit und das Bestreben, mein Arabisch zu reaktivieren, versuche ich eine Stimme zu finden, um mit Palästinensern zu sprechen.Schweigen herrscht auch in meiner Beziehung zu Tarek. Seit der Seeds of Peace-Veranstaltung vor mehr als 15 Jahren ist der Kontakt abgebrochen. Er ist mittlerweile Geschäftsmann in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Zwar habe ich mir oft vorgestellt, mit ihm über Aseel zu sprechen, aber noch habe ich keine Idee, wie ich ein solches Gespräch anfangen könnte.Eine Person, die das Schweigen bricht, gibt es. Einige Jahre nach unserem Spaziergang in Jerusalem erzählte mir Alia, warum sie mich gebeten hatte, an diesem Tag Uniform zu tragen. Sie wollte mich als Soldat sehen und sich endlich von unserer Freundschaft verabschieden können. Doch ihr Plan ging nicht auf: Wir blieben über Jahre hinweg mal mehr, mal weniger in Kontakt und sind uns heute näher denn je. Wir sprechen jede Woche miteinander. Sie heiratete einen Mann. Ich auch.2021 gelang es ihr, von den israelischen Behörden eine Einreiseerlaubnis zu bekommen. Gemeinsam mit ihren Kindern fuhren wir nach Jerusalem. Ich freute mich sehr darüber, den Nachwuchs von jemandem zu sehen, den ich liebe; wie ähnlich die Kinder ihr sind und dann doch ganz anders. Aber keiner von uns weiß, wann sie wieder einreisen darf. Das ist nicht der Traum, den Aseel und ich hatten. Das ist eine Wirklichkeit voller Gewalt an einem ungerechten Ort, unterbrochen von kurzen hellen Momenten.Placeholder authorbio-1