Krank im Namen der Gesundheit

Psychologie Inzwischen haben so viele Menschen zwanghafte Ängste, sie könnten etwas Ungesundes essen, dass dieses Krankheitsbild nun einen eigenen Namen bekommen hat: Orthorexie

Einige Organisationen, die sich um Menschen mit Essstörungen kümmern, berichten von einer zunehmenden Zahl an Menschen, die von dem Gedanken besessen sind, sich gesund zu ernähren. Von dieser nun orthorexia nervosa benannten Krankheit sind Männer wie Frauen gleichermaßen betroffen, die meisten von ihnen sind über 30, gehören der Mittelklasse an und verfügen über eine gute Ausbildung.

Erkannt wurde das Krankheitsbild zwar bereits 1997 von dem kalifornischen Arzt Steven Bratman, der es als "Fixierung auf richtige Ernährung" beschrieb, aber bis vor ein paar Jahren gab es so wenig Betroffene, dass die Ärzte sie für gewöhnlich unter die Gruppe der "Ednos" – "eating disorder not otherwise registered" (Essstörungen, die sonst nirgends vermerkt sind) – subsumierten. Nun, so sagen Experten, machten Orthoretiker einen so bedeutenden Teil der Ednos aus, dass man sie separat behandeln sollte.

"Ich kriege definitiv mehr Orthoretiker zu Gesicht als noch vor ein paar Jahren", sagt etwa Ursula Philpot, Vorsitzende der Arbeitsgruppe für geistige Gesundheit der British Dietic Association. "Bei anderen Essstörungen liegt der Fokus auf der Menge, Orthoretiker dagegen können durchaus übergewichtig sein oder Normalgewicht haben. Sie machen sich lediglich Sorgen um die Qualität der Nahrungsmittel, die sie zu sich nehmen und essen nur, was sich für wirklich "rein" halten.

Strenge Regeln

Für gewöhnlich halten sie sich an strenge Regeln und rühren weder Zucker, Salz, Koffein, Alkohol, Weizen, Klebeeiweiß, Hefe, Soja, Mais noch irgendwelche Milchprodukte an. Doch dies ist nur der Anfang ihrer Diät. Alles, was mit Pestiziden oder Herbiziden in Berührung gekommen ist, oder künstliche Zusatzstoffe enthält, ist ebenfalls tabu. Die Besessenheit, sich gesund zu ernähren, kann bei Orthoretikern zu Mangelernährung führen. Die Einhaltung der Regeln erzeugt bei den Patienten in der Regel einen gewissen Stolz auf ihr Verhalten, auch wenn dadurch die Nahrungsaufnahme einen solchen Aufwand bereitet, dass Beziehungen davon in Mitleidenschaft gezogen werden und die Betroffenen sich sozial isolieren.

Deanne Jade, Gründerin des Nationalen Zentrums für Essstörungen in Großbritannien, sagt: "Es ist nur ein schmaler Grat zwischen Leuten, die auf eine gesunde Ernährung wert legen und solchen, die an Orthorexie leiden. Ich kenne Leute in meinem Umfeld, die haben keine Ahnung, dass sie an dieser Krankheit leiden. Es begegnet mir in der Praxis, aber auch bei Freunden und Kollegen." Jade glaubt, die Krankheit befinde sich auf dem Vormarsch, weil in der modernen Gesellschaft das Verhältnis zu Nahrungsmitteln aus dem Lot geraten sei.

Orthorektiker würden häufig in ihrem Verhalten bestärkt: "Angefangen bei den Leuten, die denken, es sei normal, dass ihre Freunde ganze Gruppen von Nahrungsmitteln nicht mehr essen, über Fitnesstrainer in den Studios, die eine spezielle Ernährung empfehlen, um die körperliche Leistungsfähigkeit zu steigern, bis hin zu Ernährungsberatern und Leuten, die an die Lösung von Problemen allein durch Methoden wie Massage und Sonnenlicht glauben. Und gehen Sie mal in einen Buchladen – all die Diäten, die einem erzählen, man müsse sich gemäß seiner Blutgruppe oder seiner Stoffwechselrate ernähren. All dies ist Wasser auf die Mühlen derer, die begierig nach Belegen für ihre Ängste vor falscher Ernährung suchen."

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Amelia Hill, The Observer | The Guardian

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