Lebe lieber gar nicht

Antinatalisten Kinder lehnen sie ab. Die eigene Existenz auch. Aufmerksamkeit hingegen mögen sie schon
Ausgabe 04/2020

Im Februar letzten Jahres gab ein 27-jähriger Inder bekannt, dass er ein ungewöhnliches Gerichtsverfahren anstrebe. Er wolle seine Eltern dafür verklagen, ihn auf die Welt gebracht zu haben. „Es ist nicht unsere Entscheidung, geboren zu werden“, erklärte er der BBC. Vor Kurzem erklärte mir der junge Mann, Samuel ist sein Name, per Skype aus Mumbai, dass er ein gutes Leben habe und sich mit seinen Eltern gut verstehe. Seine Beschwerde ist von grundsätzlicher Art: Er hält es für falsch, Menschen ohne deren Einverständnis auf die Welt zu bringen. Deshalb wollte er vor Gericht von seinen Eltern einen symbolischen Betrag, zum Beispiel eine Rupie, erstreiten, „um bei Eltern im Allgemeinen eine gewisse Angst zu wecken. Denn im Augenblick denken die Leute überhaupt nicht nach, bevor sie ein Kind bekommen.“

Samuel hat sich einer Weltanschauung verschrieben, die Antinatalismus genannt wird. Der Grundgedanke ist recht simpel, wenn auch für die meisten von uns zutiefst kontraintuitiv: Antinatalisten betrachten das Leben, selbst unter besten Umständen, nicht als Geschenk oder Wunder, sondern empfinden es eher als Verhängnis und Zumutung. Folgt man dieser Logik, wird aus der rein persönlichen Entscheidung, ein Kind zu bekommen, eine ethisch-moralische – und die richtige Antwort lautet immer: nein.

Ich bin dann mal bei Youtube

Samuels Verfahren wurde noch nicht aufgenommen. „Ein Richter hat mir ganz offen gesagt, dass ich eine Strafe zu erwarten habe, weil ich die Zeit des Gerichts verschwende“, sagt er. Seine Klage hat der Bewegung der Antinatalisten dennoch Auftrieb verliehen. Stephen Colbert, ein bekannter US-Moderator, wies in seiner Show amüsiert darauf hin. Im Mai hat die 37-jährige Dana Wells aus Dallas, die als „The Friendly Antinatalist“ („Die freundliche Antinatalistin“) einen Youtube-Kanal betreibt, ein Video mit dem Ausschnitt aus Colberts Show gepostet und Samuel gratuliert. „Es fühlt sich an, als seien wir angekommen, als hätten wir einen großen Erfolg errungen!“

2006 veröffentlichte der südafrikanische Philosoph David Benatar ein Buch, in dem der Begriff Antinatalismus angeblich zum ersten Mal vorkam. In Better Never to Have Been: The Harm of Coming into Existence („Lieber nicht gewesen sein: Das Leid, zu entstehen“) zitiert Benatar den griechischen Dramatiker Sophokles („Nicht geboren zu werden ist weit das Beste“) und das Buch Kohelet aus dem Tanach: „Da preise ich immer wieder die Toten, die schon gestorben sind, und nicht die Lebenden, die noch leben müssen. Glücklicher aber als beide preise ich den, der noch nicht geworden ist, der noch nicht das schlimme Tun gesehen hat, das unter der Sonne getan wird.“ Diese Zitate legen nahe, dass die Empfindungen, die dem Antinatalismus zugrunde liegen, bereits seit sehr langer Zeit existieren.

In der Neuzeit tauchte eine weitere Form des Antinatalismus auf. Ende des 18. Jahrhunderts fürchtete Thomas Malthus, die Nahrungsmittelversorgung könnte mit den steigenden Bevölkerungszahlen nicht mithalten. 1968 veröffentlichte der Stanforder Biologe Paul Ehrlich den Bestseller The Population Bomb („Die Bevölkerungsbombe“) und gründete mit anderen zusammen die Organisation Zero Population Growth (Null Bevölkerungswachstum), die später in Population Connection (Die Bevölkerungsverbindung) umbenannt wurde. Er argumentierte, das Wachstum der Weltbevölkerung werde zu Hungersnöten und ökologischen Krisen führen. Auch regte er an, dass Menschen nicht mehr als zwei Kinder bekommen sollten.

Auch wenn Benatar ebenfalls versuchte, die Menschen von der Fortpflanzung abzubringen, folgten seine Ideen anderen Grundannahmen. Das Ziel des Antinatalismus, wie Benatar es sieht, besteht darin, menschliches Leid zu verringern. Da das Leben immer ein gewisses Maß an Leid und Leiden enthält, verursacht man zwangsläufig Leid, wenn man einen anderen Menschen auf die Welt bringt. Seiner Meinung nach sei die Qualität selbst des besten Lebens schlecht – „und wesentlich schlechter, als die meisten erkennen. Auch wenn es ganz offensichtlich zu spät ist, unsere eigene Existenz zu verhindern, so doch nicht die derjenigen, die in Zukunft geboren werden könnten“. Benatar hat mir kürzlich erzählt, er habe von vielen Lesern seines Buches erfahren, die „oft das Gefühl haben, allein auf der Welt zu sein. Es war ihnen ein starker Trost, die philosophische Verteidigung einer Sichtweise zu lesen, die sie intuitiv richtig fanden.“

Leerer Planet, guter Planet

Dana Wells, die Youtuberin aus Dallas, fühlte sich durch Benatars Arbeit bestätigt. Vor ungefähr fünf Jahren fand sie ihren biologischen Bruder (sie wurde adoptiert). Als dieser unbedingt wissen wollte, warum sie keine Kinder hatte und immer wieder darauf zu sprechen kam, ärgerte sie das und sie suchte nach dem Treffen im Internet nach Büchern – in der Hoffnung, etwas über andere Leute zu erfahren, die ebenfalls keine Kinder bekommen wollten.

Sie stieß auf die Begriffe „kinderlos“ und „Antinatalismus“. Sie fing an zu verstehen, dass „das Spiel des Lebens eine Zumutung ist“. Für sie stellte es sich ganz einfach so dar: „Lebendiges kann verletzt werden, was gar nicht erst lebt, ist sicher davor.“ Als „freundliche Antinatalistin“ postet sie nun Videos mit Titeln wie „Können Eltern Antinatalisten sein?“ Die Antwort lautet ja, sagt Wells und blickt in die Kamera. „Es wäre toll, wenn alle Antinatalisten kinderlos sein könnten, aber die Welt funktioniert nun einmal nicht so. Insbesondere für Menschen, die erst vor Kurzem etwas über Antinatalismus erfahren haben … denen kann man schlecht vorwerfen, dass sie in den 70ern, 80ern oder 90ern Kinder bekommen haben.“

Sie diskutiert auch die Unterscheidungen zwischen echten Antinatalisten (die der Überzeugung sind, dass es immer falsch ist, neues Leben zu erschaffen), den Kinderlosen (die selbst keinen Nachwuchs wollen, aber Fortpflanzung nicht notwendigerweise für unethisch halten) und Denatalisten (die Fortpflanzung nur unter bestimmten Umständen ablehnen, etwa bei Menschen mit genetisch bedingten Krankheiten, die sie an ihre Nachkommen weitergeben würden).

Echter Antinatalismus, so betont Wells, bedeutet, grundsätzlich gegen alle Geburten zu sein, unter allen Umständen. Wells spricht in ihren Videos auch Spannungen innerhalb der Gruppe der echten Antinatalisten an. „Die größte Kluft verläuft zwischen Veganern und Nichtveganern“, sagt sie. Für Benatar und seine Anhänger gelten die Werte des Antinatalismus – das heißt der Imperativ, Leid zu vermeiden – nicht nur für Menschen, sondern für alle fühlenden Wesen.

Während Antinatalisten das Leben für einen Fluch halten, haben Klimaaktivstinnen und Umweltschützer in erster Linie Bedenken, Kinder in eine Welt zu setzen, die von Umweltzerstörung und einer immer dramatischeren Veränderung des Klimas mit aller Wahrscheinlichkeit nach katastrophalen Folgen für Mensch und Natur geprägt ist. 2015 gründeten die beiden Klimaaktivistinnen Meghan Kallman und Josephine Ferorelli ein Netzwerk namens Conceivable Future (Vorstellbare Zukunft: das Wortspiel, dass sich aus dem englischen Wort für Empfängnis, „conception“, speist, lässt sich auf Deutsch nicht wiedergeben).

Überall in den USA organisieren sie Partys, wo sich die Gäste vor dem Hintergrund der Klimakrise über das Kinderkriegen austauschen können. Danach laden sie Videos dieser Zusammenkünfte auf ihrer Webseite hoch und ermutigen andere, ihr eigenes „Bekenntnis“ zu posten. In einem der Videos sagt eine 31-jährige Grundschullehrerin: „Ich fühle bereits so große Angst und Schuld und Scham und Traurigkeit … Ich finde den Verlust von Tieren und Pflanzen, von Wasser und Luft einfach traurig.“ Andere machen sich eher Sorgen darum, die Welt mit einem weiteren Kind – oder eher den Emissionen, die dieses Kind unweigerlich verursachen würde – zu belasten.“ In einem weiteren Video fragt ein junger Mann: „Will ich wirklich jemanden in die Welt setzen, der noch mehr fossile Kraftstoffe verbraucht?“

Im März vergangenen Jahres begann die britische Singer-Songwriterin Blythe Pepino mit der Organisation einer Gruppe namens BirthStrike (Geburtenstreik). Sie besteht momentan aus ungefähr 600 Leuten weltweit, die wegen des drohenden Klimazusammenbruchs keine Kinder bekommen wollen. Pepino wäre gerne Mutter, sagt sie. Sie sei aber widerwillig zu dem Entschluss gekommen, dass die ökologischen Umstände zu ungünstig sind. Wie die Gründer von Conceivable Future stehen die Anhänger von BirthStrike nicht für Bevölkerungskontrolle, sondern wollen eher darauf aufmerksam machen, wie schwerwiegend die Klimakrise ist.

Da es zwischen Antinatalisten und Klimaaktivisten gewisse Überschneidungen gibt, werden die beiden Gruppen immer öfter aufeinander aufmerksam. So finden sich in Foren für Antinatalisten zum Beispiel häufig Informationen darüber, wie Kinderlosigkeit den CO₂-Fußabdruck reduzieren kann. Letzten Endes gehen die Ziele der beiden Lager aber doch stark auseinander. BirthStrike entstand aus Extinction Rebellion, der Bewegung, die bekanntlich gegen das Aussterben von Millionen von Arten und potenziell auch unserer eigenen protestiert. Wahre Antinatalisten hingegen träumen geradezu von diesem Aussterben.

In gewisser Weise können Antinatalisten eine nützliche Perspektive bieten. Möglicherweise handelt es sich um eine unsichere Zeit, um Kinder in die Welt zu setzen. Aber wie die Antinatalisten, mit denen ich mich unterhalten habe, bemerkt haben, war das eigentlich auch noch nie anders. „Ich halte es nicht für ausgemacht, dass die Welt schlimmer wird“, sagt Benatar.

Rebecca Tuhus-Dubrow ist Autorin des Guardian

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Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Rebecca Tuhus-Dubrow | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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