Medizin Die Forschung ist dem Verständnis von Demenz einen Schritt näher gekommen. Der neueste Durchbruch im Kampf gegen die unheilbare Krankheit ist Grund zur Hoffnung, aber auch für mehr Investitionen in die Forschung
Der monoklonale Antikörper Lecanemab wirkt, indem es das Gehirn von Ablagerungen von Beta-Amyloid befreit
Foto: Imago/Science Photo Library
In einem Zeitalter exzessiver Informationen haben wir alle ein Filtersystem entwickelt. Zur Kompensation entwickeln wir unsere eigenen Schlüsselwörter, die diese Systeme durchdringen, oder einfacher gesagt, uns aufhorchen lassen. Das können die Namen von Lieblingsmannschaften, Musiker:innen, Hobbys oder Verschwörungstheorien sein. Oder Brexit.
In den vergangenen habe ich mich Millionen von Leuten angeschlossen, die bei weniger erfreulichen Triggern wie „Demenz“ und „Alzheimer“ aufmerksam werden. Aber diese Schlagwörter sind nicht immer nur Boten schlechter Nachrichten. Als die Schlagzeilen sie in der vergangenen Woche mit Worten wie „Durchbruch“ und „Behandlung“ verbanden, haben sicher viele eilig begonnen, mehr Inform
ehr Informationen zu suchen.Hinter den Schlagzeilen zeigt sich ein komplexeres Bild. Die Bekanntgabe, dass das Medikament Lecanemab – ein monoklonaler Antikörper – den kognitiven Abbau von Alzheimer-Patienten verlangsamen kann, heißt lange nicht, dass es eine unmittelbar bevorstehende Heilung für diese schreckliche Krankheit gibt. Aber es stellt durchaus eine qualitative Veränderung in der jahrzehntelangen Suche nach einer Behandlung dar.Im vergangenen Jahr wurde einem ähnlichen Medikament namens Aducanumab in den USA eine umstrittene Lizenz erteilt. Es war das erste Medikament, bei dem nachgewiesen wurde, dass es den Verlauf von Demenzvariante Alzheimer verändern kann, indem es das Gehirn von Ablagerungen von Beta-Amyloid befreit, einem Protein, das als Hauptverursacher der Krankheit gilt. Auch das war ein qualitativer Schritt nach vorn, aber die Zulassung von Aducanumab durch die US-Arzneimittelbehörde FDA war umstritten, weil die Fähigkeit des Medikaments, die Symptome zu verbessern, weniger eindeutig war.Alzheimer-Forschung bringt Stein ins RollenLecanemab scheint einen Schritt weiter zu gehen, indem es einen signifikanten, wenn auch geringen, klinischen Effekt erzielt. Auch hier gibt es zahlreiche Vorbehalte, aber mindestens so zahlreich sind auch die Medikamente und Kombinationen von Medikamenten, die getestet wurden. In ruhigen Momenten akzeptieren Neurowissenschaftler, dass die Forschung auf ihrem Gebiet über Jahrzehnte hin vielversprechende Durchbrüche hatte, ohne dass es etwas gebracht hätte. Jetzt aber wurden endlich in mehreren aufeinanderfolgenden Jahren bedeutende Ergebnisse erzielt und noch viel mehr ist zu erwarten. Der Stein ist ins Rollen geraten.Für meine Frau Vanessa wird das alles zu spät kommen. Sie leidet unter einer seltenen erblichen Form von Alzheimer, an der ihre Mutter 2006 im Alter von 58 Jahren starb. Vanessa wusste nicht, dass der Zustand ihrer Mutter genetisch bedingt war, aber sie hatte immer schon das Gefühl, dass sie das gleiche Schicksal erwartete. Mit Mitte vierzig begannen sich unübersehbare Gedächtnislücken einzuschleichen. Von 2018 an war ihr Verfall dann frappierend. Gerade 53 geworden, lebt sie seit über einem Jahr in einem Pflegeheim, nicht in der Lage zu sprechen, alleine zu essen, sich zu waschen oder anzuziehen.Seit kurzem zeigen sich die ersten Probleme beim Schlucken. Noch hält sie daran fest, was von ihrem heißgeliebten Spazieren gehen noch übrig ist. Aber auch wenn alles Andere weggefallen ist, bleiben ihr Lächeln und Lachen, wie willkürlich es auch sein mag, wie sehr das Ergebnis von unbekannten Reizen in einem sich ständig verschlechternden Gehirn.Es gibt keinen Grund, noch weiter Gefühle hervorzurufen. Alle unheilbaren Krankheiten sind schrecklich. Die Besonderheit von Demenz ist die Art und Weise, wie sie an die Seele des Menschen geht, gleichermaßen brutal und mysteriös. Erst jetzt beginnen wir, sie zu fassen zu kriegen. Das ist der Punkt, an dem wir von Gefühlen zu Zahlen übergehen können. Darauf regieren Regierungen und Unternehmen sowieso schon immer bereitwilliger.Demenz nur schwer fassbarWährend die Lebenserwartung steigt und die Wissenschaft Fortschritte macht, zeigt sich an vielen Stellen, welche Belastung Demenz für die Gesellschaft ist. Ihre Gesamtkosten für die britische Wirtschaft beliefen sich 2019 auf insgesamt 40,3 Milliarden Euro, mehr als Krebs und Herzkrankheiten zusammen. Prognosen gehen davon aus, dass sich diese Zahl bis 2040 verdreifacht. Unterdessen ist die jährliche staatliche Forschungsfinanzierung an der 80-Millionen-Pfund-Marke (93 Millionen Euro) stehen geblieben. Das sind weniger als ein Drittel der öffentlichen Gelder, die in die Krebsforschung fließen. Wohltätigkeit auf dem Gebiet eingerechnet beträgt die Gesamtsumme für Demenzforschung weniger als ein Fünftel der für Krebsforschung. Dabei sind die Kosten von Demenz im Vergleich zu Krebs für die Wirtschaft fast fünf Mal so hoch.Diese Diskrepanz ist zweifellos der Tatsache geschuldet, dass Demenz in der Vergangenheit nur schwer fassbar war, im Gegensatz zu anderen Erkrankungen, die deutlicher und körperlicher sind und damit leichter zu definieren, zu erkennen und zu behandeln. Jetzt, da die Wissenschaft ihre Geheimnisse und das Ausmaß ihrer Folgen ans Licht zu bringen beginnt, ist das Plädoyer für eine Priorisierung der Erforschung von Demenz unanfechtbar geworden. Dazu kommt noch die Vorsorge für die Kosten der Pflege, die an sich schon lähmend sind (zwei Drittel der 40,3 Milliarden Euro wird von den Betroffenen und ihren Familien getragen.).Das Verhältnis von Finanzierung und technologischem Fortschritt ist direkt und unkompliziert. Das zeigte sich bei Covid-19 und Krebs. Das mysteriöse, magische Wort „Lecanemab“ sollte mehr sein als ein Trigger, der die Aufmerksamkeit von Demenz Betroffener auf sich zieht. Möge es die aufhorchen lassen, die Gelder verteilen. Mindestens so sehr, wie das Medikament die Hoffnung auf eine künftige Heilung darstellt, muss es Anstoß für weitere Finanzierung und Forschung sein. Wir sind der Demenz auf der Spur. Das ist der Zeitpunkt, um sich ihr an die Fersen zu heften.
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