Let’s be German

Europa Die Angst vor dem Brexit nimmt zu. Unsere britische Autorin hat ihrer Familie jetzt deutsche Pässe besorgt
Ausgabe 24/2017

Letzte Woche wurde meine Tochter zwei Jahre alt. Wir haben ihren Geburtstag gefeiert, indem wir sie zu einer Deutschen machten. Anstatt Kuchen zu essen und Konfetti-Pistolen durchzuladen, verbrachte sie den Tag damit, in den Wartezimmern der deutschen Botschaft in London herumzuwirbeln. Unterdessen füllte ich dort geduldig eine Reihe von Formularen aus. Bis wir schließlich ihre doppelte Staatsangehörigkeit unter Dach und Fach hatten und ihren neuen deutschen Reisepass entgegennehmen konnten.

Dieser Botschaftsgeburtstag war der Höhepunkt eines Prozesses, der ziemlich genau ein Jahr zuvor begonnen hatte – am Tag, an dem das Ergebnis des Brexit-Referendums feststand. Das deutsche Grundgesetz macht es möglich, genauer gesagt Artikel 116. Er räumt mir das Recht ein, die doppelte Staatsbürgerschaft nicht nur für mich selbst, sondern auch für meine beiden in Großbritannien geborenen Kinder, zwei und vier Jahre alt, zu beantragen. Jenes Recht steht grundsätzlich allen zu, die während der Nazi-Diktatur verfolgt wurden – und auch deren Nachkommen.

Mein kulturell, aber nicht religiös jüdischer Großvater war bei Kriegsausbruch mit meiner nichtjüdischen Großmutter vor den Nazis nach Großbritannien geflohen. Das hatte für mich allerdings nie eine Rolle gespielt. Weder brachte man mir als Kind bei, mich meiner deutschen Wurzeln zu schämen, noch ermunterte man mich, stolz auf sie zu sein. In meiner Erziehung gab es nichts, was mir nahegelegt hätte, dass ich jemals etwas Anderes sein könnte als eine Britin und Christin. Hätte ich vor zwei, drei Jahren über das Modell der doppelten Staatsbürgerschaft nachgedacht, wäre es mir nicht nur unnötig, sondern sogar unehrlich vorgekommen, so durch und durch britisch habe ich mich immer gefühlt.

Riss in der Identität

Doch das war vor dem Referendum. Als leidenschaftliche Befürworterin eines Verbleibs in der Europäischen Union spürte ich plötzlich einen unerwarteten Riss in meiner britischen Identität. Quasi über Nacht war sie brüchig geworden. Ich merkte, dass ich mich als Londonerin identifizierte – mit einer Stadt, in der die große Mehrheit für Remain, für Europa votiert hatten. Alles ringsherum fühlte sich mit einem Mal fremd an. Wie ein Land, das ich nicht verstand und in dem ich mich auch nicht länger willkommen fühlte.

Zunächst kam es mir selbst wie ein verzweifelter Witz vor. „Ich mache meine Familie deutsch“, offenbarte ich Freunden und freute mich über ihr unerwartetes Interesse. Meine Begeisterung motivierte meine Mutter, auch für sich die doppelte Staatsbürgerschaft zu beantragen, und die Formalitäten für meinen fünf Jahre alten Neffen sind inzwischen auch schon weit gediehen. Ich war nicht die Einzige, die auf diese Idee kam. Im ersten Halbjahr nach dem Referendum verzeichneten die deutschen Behörden einen 20-fachen Anstieg der Anträge auf Wiedereinbürgerung aus dem Vereinigten Königreich. Michael Newman, der Vorsitzende der Association of Jewish Refugees, der für sich selbst ebenfalls einen solchen Antrag gestellt hat, findet es „schon irgendwie ironisch“, dass seine Organisation einst gegründet wurde, „um Menschen aus Deutschland zu helfen, zu Briten zu werden – und heute, 70 Jahre später, helfen wir ihnen unter umgekehrten Vorzeichen, die deutsche und österreichische Staatsbürgerschaft zu beantragen“.

In Anbetracht des plötzlichen großen Interesses wurde ich gewarnt, dass alles sehr lange dauern könnte. Aber schon wenige Tage, nachdem ich meine Papiere abgegeben hatte, erhielt ich eine charmante E-Mail von meiner persönlichen Ansprechpartnerin bei der deutschen Botschaft. Wir standen über Monate in Kontakt, meine zahlreichen (und gelegentlich besorgten) E-Mails hat sie stets zügig, zuvorkommend und gewissenhaft beantwortet. Kurz nach Neujahr gratulierte sie mir in einer E-Mail: Unserem Antrag war stattgegeben worden. Alles, was mein britischer Ehemann und ich noch tun müssten, sei, persönlich in der Botschaft zu erscheinen und noch ein paar Formulare auszufüllen – dann könnten wir auch schon die neuen Pässe für mich und meine Kinder abholen. Sie freue sich darauf, uns kennenzulernen.

Aus irgendeinem Grund zögerte ich diesen letzten Schritt hinaus. Jetzt, wo ich wusste, dass es wirklich möglich war, meine Nationalität und die meiner Kinder dauerhaft zu ändern, machte es mir plötzlich Angst: Ich war doch britisch, vom Scheitel bis zur Sohle! Vielleicht beging ich gerade einen schweren Fehler?

Doch dann verfinsterte sich die politische Wetterlage weiter: Theresa Mays Version eines „harten“ Brexit kristallisierte sich heraus, ihre Ankündigungen waren durchzogen von wahnhaften Überzeugungen, Wunschdenken und Ignoranz, es wurde immer schlimmer. Und Jeremy Corbyn hatte dem all die quälenden Monate über nichts Überzeugendes entgegenzusetzen. Keiner von beiden bezog die 48 Prozent mit ein, die gegen den Ausstieg aus der EU gestimmt hatten. Alle Politiker bei uns sprachen die ganze Zeit, auch jetzt im Wahlkampf, immer vom „Willen des Volkes“. Sie taten nicht nur so, als ob sie einen gescheiten Plan jederzeit aus dem Ärmel schütteln könnten, obwohl sie nie einen besaßen; sie taten auch immer so, als ob ihnen eine 100-prozentige Masse gegenüberstünde. Aber diese 100 Prozent gab es nie! All das empfand – und empfinde – ich als einen demokratischen Betrug.

Ich war es gewohnt, über meine Regierung frustriert und verärgert zu sein, wie die meisten Bürgerinnen und Bürger. Aber noch nie hatte ich mich so befremdet und im Stich gelassen gefühlt wie im vergangenen Jahr, sowohl von der Regierung als auch von der Opposition. Ich kannte auch diese schwelende Angst vor der Zukunft nicht, genauso wenig wie das Gefühl, dass mein Land unwiderruflich gespalten ist. Aber dieser Eindruck ist jetzt da – und er hält sich. Ich glaube, dass unsere Verfassung sich für die Moderne nicht mehr eignet. Unser britisches Mehrheitswahlrecht ist ein undemokratisches System. Es spiegelt nicht die wahre Meinungsverteilung unter den Wählerinnen und Wählern wider. Also machten wir uns in der vergangenen Woche, ein paar Tage vor den von May angezettelten Neuwahlen, in der Frühlingssonne auf den Weg in den Londoner Stadtteil Belgravia – um die noch fehlenden Formulare schließlich zu unterzeichnen und die Sache amtlich zu machen.

Ich war gespannt, wie es sich anfühlen würde, eine weitere Identität hinzugewonnen zu haben. Aber als ich dann mit unserer Tochter auf dem Schoß dort saß, mein Mann mit unserem Sohn neben mir, und der Botschaftsvertreter uns gratulierte (und meinem Mann Ratschläge gab, was er zu tun hätte, sollte er auch noch die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen wollen), spürte ich, wie sich einzelne Puzzleteile in meinem Inneren bewegten. Mir stockte kurz der Atem, und mir wurde klar, dass ich mir vor allem erst einmal etwas abgetrennt hatte: die Nabelschnur, die mich mit der Insel, auf der ich geboren wurde, verbunden hatte. Ich hatte mich losgemacht und konnte zu neuen Ufern aufbrechen.

Wie neu geboren

Was bewirkt diese Kombination aus Neu-Zugehörigkeit und Nicht-mehr-ganz-Zugehörigkeit jetzt, etwa zehn Tage später, in mir? Einen Zustand des naiven Staunens, als wäre ich neu geboren. Ein Aufatmen. Noch ist die Wolke, die sich am 24. Juni 2016 über mir zusammengezogen hat, nicht vertrieben. Aber das Gefühl des Ausgeliefertseins hat sich gelegt. Wir haben die Botschaft mit unseren neuen Pässen und kleinen Ansteckern verlassen, auf denen die deutsche und die britische Flagge ineinander verschränkt sind. Ich habe jetzt das Recht, in Deutschland zu wählen. Es ist ungewohnt. Aufregend. Beglückend.

Meine Kinder werden im Ausland arbeiten, lieben und leben können, wenn es ihnen gefällt. Niemand kann ihnen das mehr nehmen, egal was unseren Politikern noch einfällt. Und auch ich habe nun diese Wahlmöglichkeit – dank des Artikels 116. Wir haben Glück! Und auf einmal bekommt das Wort „Horizonterweiterung“ eine neue Bedeutung. Auf einmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn mein Mann und ich uns in Deutschland zur Ruhe setzen würden. Sollte unser bisheriges Land im Brexit-Morast versinken – noch ärmer, noch gespaltener, noch isolierter –, könnten wir gehen. Nicht, dass wir das unbedingt wollten. Aber jetzt könnten wir. Wir sind keine Gefangenen mehr. Sondern freie Menschen.

Amelia Hill ist Chefreporterin beim Guardian

Übersetzung: Holger Hutt

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Geschrieben von

Amelia Hill | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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