Immer wieder tauchen auf Videos neue Szenen des Grauens und der Gewalt vom bislang tödlichsten Tag an der Grenze zwischen Marokko und der spanischen Exklave Melilla – zwischen Nordafrika und Europa – auf. Davon erschüttert sind die Gemüter auch noch eine Woche nach dem furchtbaren Vorgängen am Morgen des 25. Juni. Die kursierenden Aufnahmen zeigen die Leichen junger Männer, die in Blutlachen auf dem Boden liegen. Zu sehen sind marokkanische Sicherheitskräfte, die Verletzte – oder Tote? – misshandeln, treten und schlagen. Auf der anderen Seite feuern Angehörige der spanischen Guardia Civil Tränengasgranaten auf Menschen ab, die sich verzweifelt und wehrlos an den meterhohen Zäunen festklammern, im Stacheldraht hängenb
Das Melilla-Massaker: Blutbad mit Dutzenden Toten
EU-Außengrenze Die Bilder der Gewalt gegen Migranten vor der spanischen Exklave Melilla sind in ihrer Brutalität unfassbar. So viele Tote gab es an der EU-Außengrenze in Afrika noch nie. Menschenrechtsorganisationen fordern Untersuchungen der Vorfälle
enbleiben und aus gefährlicher Höhe zu Boden stürzen. Man sieht auf einem Video, wie die marokkanische Gendarmerie Einwanderer und Flüchtlinge mit Steinen bewirft.In weiteren Sequenzen ist außerdem erkennbar, dass diese Milizionäre auch auf der spanischen Seite der Grenzbarriere ungehindert Jagd auf Schwarzafrikaner machen können, um sie festnehmen und mit Schlagstöcken wieder auf marokkanisches Territorium zu treiben. Das Mindeste, was nach alldem zu geschehen habe, sei eine Untersuchung dieser gnadenlosen Brutalität, findet Judith Sunderland von Human Rights Watch.Von Schleusern missbraucht?Minuten nachdem er spanischen Boden erreichen konnte, habe er sich umgedreht, um zu sehen, wie es seinen Freunden entlang des meterhohen Maschendrahtzauns ergangen sei, erzählt Mohammed. „Ich empfand diese Momente als unglaublich schrecklich“, fährt der 20-Jährige aus dem Sudan fort. „Es war ein Blutbad. Viele von meinen Freunden schienen tot zu sein, andere schwer verletzt. Obwohl sie regungslos am Boden lagen, wurde weiter auf sie eingeschlagen.“Das marokkanische Staatsfernsehen hatte zunächst mitgeteilt, dass es 23 Tote gegeben habe, als in der Nacht zum 25. Juni gut zweitausend Menschen, hauptsächlich aus dem subsaharischen Afrika, versucht hatten, eine der beiden Landgrenzen zwischen Afrika und der Europäischen Union zu durchbrechen (die zweite gibt es mit der spanischen Exklave Ceuta an der Straße von Gibraltar/siehe Glossar). Bald jedoch musste diese Angabe korrigiert werden. Nichtregierungsorganisationen beklagten 37 Todesfälle. Einige von ihnen sprechen mittlerweile von der „Melilla-Tragödie“, wie Helena Maleno Garzón von der NGO Walking Borders.Placeholder infobox-1In einem Pressestatement hat Spaniens Premierminister Pedro Sánchez von der sozialistischen PSOE den Ansturm auf die Grenzanlagen als „einen gewalttätigen Angriff und einen Anschlag auf die territoriale Integrität Spaniens“ bezeichnet. Für ihn sei niemand sonst als eine „Mafia der Menschenhändler“ dafür verantwortlich. Mohammed – einer der 133 Flüchtlinge, die nach Melilla durchkamen, ohne zurückgeschickt zu werden – bestreitet das. „Wir sind keine Mafiosi, und es gibt keine Mafia, der wir uns ausgeliefert haben. Wir besitzen gar nicht das Geld, um diese Leute bezahlen zu können. Nein, wir organisieren uns selbst“, beteuert er. Vor drei Jahren bereits verließ Mohammed sein Heimatland und durchquerte fünf afrikanische Staaten in der unbeirrbaren Sehnsucht, nach Europa zu gelangen. Eigentlich könne er sich jetzt glücklich schätzen, fast am Ziel seiner Wünsche zu sein, aber das Erlebte laste wie ein Albtraum auf ihm. Es lasse ihn nicht schlafen, wühle ihn immer wieder auf, es lasse ihn wohl nie mehr los. „Ich weiß nicht, wer von meinen Freunden gestorben – wer verletzt, wer noch um Leben ist. Ich weiß nicht, was mit denen passiert ist, die rücksichtslos nach Marokko zurückgestoßen wurden.“Nach dem inhumanen Vorgehen gegen wehrlose Menschen, das nach dem Eindruck von Augenzeugen Züge eines Massakers hatte, verlangen mehr als 50 Hilfsorganisationen und Menschenrechtsgruppen eine Untersuchung. Unter ihnen sind 50 Migranten und Flüchtlinge, die es in den vergangenen Monaten nach Melilla geschafft haben. „Warum behauptet Pedro Sánchez, dass wir nützliche Idioten der Mafia sind?“, fragt ein junger Mann namens Hussein einen Reporter der spanischen Zeitung El País. „Wir haben nichts bezahlt, sondern lediglich unser Gehirn benutzt und uns einen guten Plan ausgedacht, weil wir zuvor so sehr leiden mussten.“ Bei den meisten, die vergeblich versucht haben, die Grenzbarrieren zu überwinden, handele es sich um Migranten, die vor den Konflikten im Sudan, in Eritrea, in Äthiopien und Somalia geflohen sind, urteilt die spanische Flüchtlingskommission. Sie gehe davon aus, dass Menschen, die Anspruch auf internationalen Schutz hatten, gewaltsam daran gehindert worden seien, Asyl in Anspruch zu nehmen, was klar gegen die Genfer Flüchtlingskonventionen verstoße.Mittlerweile teilte die Staatsanwaltschaft in Madrid mit, dass eine Untersuchung der Todesfälle eingeleitet worden sei, während die marokkanischen Behörden auf ihrer Seite weiter hart durchgreifen. Gegen 65 Personen, die am versuchten Grenzübertritt beteiligt waren, wird wegen Brandstiftung, des Angriffs auf Sicherheitsbehörden und Körperverletzung ermittelt. Hunderte Migranten wurden von der Grenze weg per Lastkraftwagen in Gegenden im Landesinneren transportiert. Die Marokkanische Gesellschaft für Menschenrechte erhebt daraufhin den Vorwurf, es werde versucht, Todesfälle zu vertuschen, indem mutmaßliche Zeugen entfernt würden. Bis zum siebenten Tag nach den Ereignissen hatte es weder eine einzige Autopsie gegeben, geschweige denn war etwas geschehen, um die Toten zu identifizieren.Die Ereignisse haben sich in Melilla überschlagen, nachdem Spanien und Marokko erst vor Kurzem wieder zur Zusammenarbeit in Grenzfragen zurückkehrt waren. Bis dahin hatte dies ein über Jahrzehnte andauernder Konflikt über die Westsahara verhindert. Marokko annektierte 1975 die frühere spanische Kolonie und weist seither jede Verhandlungslösung über eine Autonomie oder gar Souveränität weit von sich. Die Befreiungsbewegung Polisario gilt für Rabat als Kriegspartei, der man keinerlei Zugeständnisse machen dürfe. Laut Judith Sunderland von Human Rights Watch unterstreiche das jetzige Drama nicht zuletzt die Notwendigkeit für eine „ernsthafte Neuordnung der Beziehung zwischen Spanien und Marokko“. Daran führe kein Weg mehr vorbei.Auch UN-Sekretär António Guterres zeigte sich nach den Ereignissen vom 25. Juni schwer besorgt. „Ich bin geschockt von der Gewalt an der Grenze Nador-Melilla, die zum Tod von Dutzenden Migranten und Asylsuchenden geführt hat“, schrieb er auf Twitter. Der Gebrauch von derart exzessiver Gewalt sei inakzeptabel. „Die Menschenrechte und die Würde von Menschen auf der Flucht müssen von den Staaten priorisiert werden.“Tatsächlich hätte es des unmissverständlichen Appells an eine EU-Migrationspolitik bedurft, die in Nordafrika seit dem Arabischen Frühling und den folgenden Bürgerkriegen auf Abschrecken und Abwälzen setzt. Die EU duldet unter Bruch eigener Prinzipien die „heiße“, weil gewalttätige Abschiebung, wie sie in Melilla praktiziert worden ist. Überdies gibt es für Spanien und seinen Abwehrreflex Präzedenzfälle, zu denen es 2016 kam, als der Europäische Gerichtshof in Luxemburg wie auch der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg die damalige Asylpraxis Griechenlands verurteilten. Denn noch ist das Asylrecht ein Individualrecht, dem an jeder Außengrenze der EU Geltung verschafft werden sollte. In Polen ebenso wie in Bulgarien, in Italien oder eben Spanien. Es sollte geschützt werden, anstatt Drittländer wie Marokko, Libyen und die Türkei als Bastion gegen die Migration zu instrumentalisieren. Solange das so bleibt, ist das Grauen von Melilla jederzeit wiederholbar.Placeholder authorbio-1