Mikroben werden uns retten

Farmfree Food Forscher können jetzt Wasser in Nahrung verwandeln. Landwirtschaft ist bald nicht mehr nötig
Ausgabe 07/2020

Es klingt wie ein Wunder, aber technologisch erfordert es keinen Quantensprung. In einem kommerziellen Labor am Stadtrand von Helsinki durfte ich zuschauen, wie Wissenschaftler Wasser in Essen verwandelten. Durch eine Luke in einem Metalltank sah ich rotierenden gelben Schaum, eine Art Urschlamm-Gebräu aus Mikroben, die sich durch Wasserstoff vermehren. Durch Röhren abgelassen und auf heißen Untergrund gespritzt, verwandelte der Schaum sich in gelbes Mehl.

Für den Handel ist das Produkt noch nicht zugelassen, aber während des Drehs unseres Dokumentarfilms Apocalypse Cow ließen die Wissenschaftler des Unternehmens Solar Foods mich kosten. Ich wünschte mir Pfannkuchen. Abgesehen von den Labormitarbeitern würde ich der Erste auf der Welt sein, der so etwas isst. Gemischt mit Hafermilch, kam das Mehl in die heiße Pfanne und ich tat meinen kleinen Schritt für die Menschheit. Es schmeckte ... exakt wie Pfannkuchen.

Dabei ist das Mehl als Rohstoff für alles Mögliche gedacht. Es könnte Füllstoffe ersetzen, die wir heute in Tausenden Lebensmittelprodukten benutzen. Durch leichte Veränderung der Bakterien lassen sich aber auch Proteine für im Labor gezüchtetes Fleisch, Milch und Eier herstellen. Denkbar ist auch die Herstellung von Laurinsäure – bye-bye, Palmöl! – und langkettigen Omega-3-Fettsäuren – hallo, im Labor gezüchteter Fisch! Die Kohlenhydrate, die nach Auszug von Proteinen und Fetten übrig bleiben, könnten von Nudelmehl bis Kartoffelchips alles ersetzen. Die erste kommerzielle Fabrik des Start-ups soll nächstes Jahr mit der Produktion beginnen.

Solar Foods’ Wasserstoffmethode ist zehnmal effizienter als Fotosynthese. Pflanzen sind nur teilweise essbar, Bakterienmehl dagegen komplett. Das steigert die Effizienz um ein Vielfaches. Durch die Herstellung in großen Bottichen ist zudem die Flächeneffizienz laut Schätzungen des Unternehmens rund 20.000 Mal höher. Alle Menschen auf der Erde könnten satt werden, und das bei Nutzung nur eines geringen Teils der Erdfläche. Wenn das – deutlich weniger als für Landwirtschaft – nötige Wasser wie geplant durch Solarenergie elektrolysiert wird, sind Wüsten der beste Standort für mögliche Fabriken.

Wir stehen vor einer der größten wirtschaftlichen Transformationen seit 200 Jahren. Die heißen Diskussionen über die Vorteile von Ernährung auf Pflanzen- oder Fleischbasis werden durch neue Technologien bald überflüssig. Schließlich stammen dann die meisten Lebensmittel weder von Tieren noch von Pflanzen, sondern von Einzellern. Nach 12.000 Jahren, in denen die Landwirtschaft die Menschheit ernährt hat, könnte sie – bis auf die Obst- und Gemüseproduktion – durch „Präzisionsfermentation“ ersetzt werden, das Brauen von Mikroben, also die Vermehrung von Mikroorganismen, um bestimmte Produkte herzustellen. Ich weiß, bei einigen Leuten wird diese Aussicht Horror auslösen. Auch ich sehe Schattenseiten. Aber es wird in kürzester Zeit passieren.

Über der Nahrungsversorgung der Menschheit hängen drohend verschiedene Katastrophen-Szenarien, von denen jedes allein schon schrecklich wäre. Durch klimawandelbedingte, gleichzeitige Hitzewellen und andere Auswirkungen könnte es zu einem „multiplen Kornkammer-Versagen“ kommen, wie Wissenschaftler es nennen. Laut UN ist im Jahr 2050 die Ernährung der Weltbevölkerung nur durch den Einsatz von 20 Prozent mehr Wasser möglich. Aber vielerorts ist dieser bereits ausgereizt: Grundwasserleiter verschwinden, Flüsse versickern, bevor sie das Meer erreichen. Die Gletscher, die die Hälfte der Bevölkerung Asiens versorgen, gehen rapide zurück. Die unvermeidbare, durch bereits ausgestoßene Treibhausgase verursachte globale Erwärmung wird die Regenmenge während der Trockenzeit in kritischen Gebieten wohl noch verringern und so fruchtbare Ebenen in windige Staubwüsten verwandeln.

Fleisch ist Fleisch

Zudem bedroht eine globale Bodenkrise unsere Existenz, da große Flächen von Ackerland durch Erosion, Verdichtung und Kontaminierung unfruchtbar werden. Es schwinden für die Landwirtschaft wichtige Phosphatvorkommen, und wegen des großen Insektensterbens drohen katastrophale Bestäubungsausfälle. Wie die Landwirtschaft uns alle auch nur bis 2050 ernähren soll, ist unklar, ganz zu schweigen von der Zeit bis zum Ende des Jahrhunderts und darüber hinaus.

Die Nahrungsproduktion zerstört Pflanzen- und Tierwelt. Fischerei und Landwirtschaft sind bei weitem die größten Verursacher von Artensterben. Die Landwirtschaft ist zentraler Faktor für den Klimakollaps, die größte Ursache für die Verschmutzung von Flüssen und trägt stark zur Luftverschmutzung bei. Über weite Gebiete der Erde hat sie komplexe wilde Ökosysteme durch simplen Nahrungsanbau ersetzt. Industrielle Fischerei treibt den ökologischen Kollaps der Meere weltweit voran. Essen ist zum moralischen Minenfeld geworden, da fast alles, was wir in den Mund stecken – von Rindfleisch zu Avocados über Käse und Schokolade zu Mandeln und Tortillachips, Lachs und Erdnussbutter –, nicht vertretbare Kosten für die Umwelt hat.

Aber gerade als die Hoffnung ganz schwindet, eröffnen die neuen, von der Landwirtschaft abgekoppelten Technologien, die ich „Farmfree Food“ („Essen ohne Bauernhof“) nenne, erstaunliche Möglichkeiten zur Rettung von Mensch und Planet. Durch Farmfree Food können wir der Natur große Land- und Meergebiete zurückgeben. Rewilding und eine Reduzierung des CO₂-Austoßes in großem Stil werden möglich, ebenso wie ein Ende der Ausbeutung von Tieren und der meisten Abholzung. Machbar wären auch eine massive Reduzierung der Verwendung von Pestiziden und Düngemitteln sowie ein Ende von Netzschlepper- und Langleinenfischerei. Es ist unsere größte Hoffnung, das zu stoppen, was manche das „sechste große Aussterben“ nennen, ich aber eher die „große Vernichtung“. Und richtig genutzt, bedeutet es kostengünstiges und reichlich Essen für alle.

Die Forschung der Denkfabrik RethinkX legt nahe, dass im Jahr 2035 Proteine durch Präzisionsfermentation rund zehnmal weniger kosten als tierisches Eiweiß und dadurch die Fleischproduktion einbricht. Dabei wird Essen nicht nur billiger, sondern auch gesünder. Weil Farmfree Foods aus einfachen Bestandteilen zusammengesetzt werden, können Allergene, harte Fette und andere ungesunde Komponenten ausgeschlossen werden. Fleisch ist immer noch Fleisch, auch wenn es in Fabriken auf Kollagen-Zellträgern wächst. Stärke bleibt Stärke, Fette bleiben Fette. Aber Nahrung ist vermutlich besser, billiger und weniger schädlich für die biologische Vielfalt.

Von jemandem, der sein Leben lang politischen Wandel gefordert hat, mag Begeisterung für den technologischen Wandel seltsam klingen. Aber nirgendwo auf der Erde sehe ich die Entwicklung vernünftiger Landwirtschaftsstrategien. Regierungen stecken erstaunliche 660 Milliarden Euro an Subventionen in die Landwirtschaft, und fast alle sind pervers und destruktiv. Sie fördern Entwaldung, Umweltverschmutzung und Tiersterben. Forschungen ergaben, dass nur ein Prozent des Geldes dazu genutzt wird, die Natur zu schützen. Nicht möglich sei es gewesen, „Beispiele für Regierungen zu finden, die ihre Steuerinstrumente nutzen, um direkt die Versorgung mit gesünderem und nährstoffreicherem Essen zu fördern“.

Auch die Mainstream-Debatte über Landwirtschaft führt nur zu weiteren Katastrophen. Weit verbreitet gilt intensive Landwirtschaft als das Problem und Extensivierung – weniger Nahrung pro Hektar zu produzieren – als Lösung. Ja, intensive Landwirtschaft richtet großen Schaden an, aber extensive Landwirtschaft ist noch schlimmer. Zu Recht bereitet städtische Zersiedelung Sorge. Doch landwirtschaftliche Zersiedelung betrifft ein weitaus größeres Gebiet, und jeder Hektar für Landwirtschaft geht für wildlebende Tiere und komplexe Ökosysteme verloren.

Laut einem Artikel im Wissenschaftsmagazin Nature verursacht extensive Landwirtschaft zudem für die Produktion der gleichen Menge mehr Treibhausgas-Ausstoß, Bodenzerstörung, Wasserverbrauch und Verschmutzung mit Phosphat. Wenn alle Fleisch von Weidetieren essen würden, bräuchten wir mehrere weitere Planeten, um es zu produzieren.

Landwirtschaftsunabhängige Produktion dagegen verspricht eine verlässlichere Nahrungsversorgung, überall, sogar in Ländern ohne Agrarflächen. Sie könnte eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung des Hungers in der Welt spielen. Aber es gibt einen Haken: Viele Millionen Menschen, die in Landwirtschaft und Lebensmittelverarbeitung arbeiten, werden letztlich ihre Jobs verlieren. Und wegen ihrer hohen Effizienz werden die neuen Prozesse weniger Arbeitsplätze schaffen, als sie zerstören. RethinkX sagt ein schnelles Ende der Fleisch- und Milchindustrie voraus, da nur wenige Milchproteine wie Kasein und Molke durch Fermentierung produziert werden müssen, um die Profitmargen des Sektors kollabieren zu lassen. Die Milchwirtschaft in den USA könnte schon „2030 bankrott“ sein.

Ich bezweifle, dass es so schnell geht, aber die Denkfabrik unterschätzt einen anderen Aspekt. Sie geht nicht auf den krassen Wandel in der Futtermittelproduktion durch Alternativen zu pflanzlichen Produkten ein, wie in Helsinki vorangetrieben. Das könnte die Landwirtschaft genauso hart treffen wie die Herstellung von Milch und Fleisch im Labor die Viehbauern. Solar Foods will bereits in fünf Jahren Eiweiß genauso günstig produzieren wie das weltweit billigste konventionelle Produkt – Soja aus Südamerika. Statt immer mehr Geld in eine sterbende Industrie zu pumpen, sollten Regierungen die Umorientierung von Bauern fördern und Unterstützungsfonds für die aufbauen, die plötzlich ihr Einkommen verlieren.

Wir haben keine Zeit mehr

Ein weiteres Risiko ist die potenzielle Konzentration der Labor-Nahrungsindustrie. Wir müssen die Patentierung von Schlüsseltechnologien verhindern, um eine möglichst breite Verteilung des Zugriffs darauf zu sichern. Durch richtige Regulierung könnten Regierungen die Hegemonie der riesigen Konzerne brechen, die derzeit die globalen Lebensmittelprodukte beherrschen. Falsche Weichen dagegen könnten deren Macht noch stärken. Daher sind strenge Kartellrecht-Auflagen nötig. Zudem ist sicherzustellen, dass die neuen Lebensmittel einen niedrigeren CO₂-Abdruck haben als die alten: Farmfreie Produzenten sollten ihre Unternehmen komplett mit Energie aus CO₂-armen Quellen betreiben. Da wir uns an einem Punkt folgenschwerer Entscheidungen befinden, sollten wir sie gemeinsam treffen.

Dabei können wir es uns nicht leisten, darauf zu warten, dass uns Technologien retten. Bedeutende Lebensräume wie die Regenwälder von Madagaskar, Westpapua und Brasilien werden für die Produktion von Rindern, Soja und Palmöl zerstört. Durch vorübergehende pflanzliche Ernährung mit möglichst niedrigen Auswirkungen (keine Avocados oder Spargel außerhalb der Saison!) können wir dazu beitragen, die notwendige Zeit zu gewinnen, um Arten und Lebensräume zu retten, während die neuen Technologien reifen. Jedenfalls bietet Farmfree Food neue Hoffnung: Bald ist es möglich, die Welt zu ernähren, ohne sie zu verschlingen.

George Monbiot ist Universitätsdozent, politischer Aktivist und Guardian-Kolumnist

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

George Monbiot | The Guardian

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