Missbrauchsvorwürfe gegen Russell Brand: Vor unser aller Augen
Meinung Die Frauenfeindlichkeit des Comedians Russell Brand war lange salonfähig. Als sich das Establishment von ihm abwandte, umarmten ihn die Rechtspopulisten. Seine Übergriffigkeit haben beide ermöglicht
Russell Brand war immer für Empörung gut. Das war seine Masche und sein Verkaufsargument: die Bereitschaft, Grenzen zu überschreiten, die ihm – wenn er sie mit seinem unbestreitbaren Charisma garnierte und genügend langen Wörtern, um die kruden Sex-Gags intellektueller klingen zu lassen – über die Jahre ein Vermögen einbrachte.
Aber könnte diese Bereitschaft zu schockieren, in aller Öffentlichkeit über die Stränge zu schlagen, auch als eine Art Schutzschild gedient haben? Was konnte man ihm vorwerfen, das er nicht schon halb zugegeben hatte, und zwar auf jene schadenfrohe Art und Weise, bei der man nie wusste, ob er es ernst meinte oder nicht, die aber das Publikum irgendwie mitschuldig machte? Als er in seinen Memoiren mit
oiren mit dem unsäglichen Titel My Booky Wook beschrieb, wie er gebeten wurde, in der Entzugsklinik eine Liste der Frauen zu erstellen, denen er im Laufe der Jahre Unrecht getan hatte, und sich dabei fühlte „wie Saddam Hussein, der versucht, einzelne Kurd*innen herauszupicken“, entschärfte seine Offenheit irgendwie die offensichtlichen Fragen darüber, was genau er all diesen namenlosen Frauen angetan hatte.Das Erschütterndste an der gemeinsamen Untersuchung, die von Channel 4, der Sunday Times und der Times am vergangenen Wochenende veröffentlicht wurde, waren für mich nicht die zweifellos fürchterlichen Vorwürfe der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung (die Brand bestreitet und darauf beharrt, dass selbst in seiner wildesten Phase der Sex einvernehmlich gewesen sei). Es war die Art und Weise, wie die Channel-4-Doku Filmmaterial von Brand auf der Bühne – der über seine Begeisterung für harten Sex scherzte, für Blowjobs, bei denen Frauen keine Luft mehr bekamen und japsten und ihnen die Wimperntusche über das Gesicht lief – mit Filmmaterial einer Frau kombinierte, die nur Alice genannt wurde und beschrieb, wie sie mutmaßlich genau das mit Brand erlebte, als sie erst 16 war und er ein erwachsener Mann von 31 Jahren. Wenn Komiker auf der Bühne über sich selbst sprechen, ist das oft nur gespielt. Aber was, wenn es nicht so ist? Was, wenn das Publikum, das eifrig mitlachte, in Wirklichkeit etwas belohnte und normalisierte, was wir heute als Missbrauch bezeichnen, während die Fernseh- und Medienbranche, über die er heute herzieht und damit viel Geld verdient, mit Begeisterung dasselbe tat?Warum lachten Frauen bei Russell Brands Auftritt?Wenn man sich diese Aufnahmen heute ansieht, kann man sich leicht fragen, warum die Frauen bei diesem Auftritt lachten. Aber Brand wurde zu einer Zeit berühmt, in der Frauen oft den Druck verspürten, über Dinge zu lachen, die sie insgeheim als unangenehm empfanden, um kultiviert und frei zu wirken; um das „coole Mädchen“ zu sein, das, wie die Erzählerin von Gillian Flynns Kultroman Gone Girl (2012) es ausdrückt, Fußball, Bier und Dreier liebt und im Gegenzug nie etwas dafür erwartet. „Coole Mädchen werden nie wütend; sie lächeln nur gequält und liebevoll und lassen ihre Männer machen, was sie wollen. Nur zu, scheiß auf mich, es macht mir nichts aus, ich bin das Coole Mädchen. Männer glauben tatsächlich, dass es dieses Mädchen gibt.“ In einer Welt, in der Comedians Rockstars waren und Show-Runner mutmaßlich damit beauftragt werden konnten, die Telefonnummern von Frauen im Publikum einzusammeln, mit denen er schlafen wollte, könnte es für Brand so ausgesehen haben, als sei diese Fantasie wahr geworden.Denn es waren nicht nur Mädchen, die ihn unbedingt cool finden wollten. Erwachsene Männer und Frauen im Fernsehen und im Radio ermöglichten seinen raschen Aufstieg von der Moderation eines Big-Brother-Ablegers auf Channel 4 zu seiner eigenen Talkshow und dann einen Primetime-Sendeplatz auf BBC Radio 2, einem Sender, der einst fest im Sattel saß und nun scheinbar verzweifelt versuchte, mit der Zeit zu gehen, die er nicht ganz verstanden hatte. Wenn man sich heute Ausschnitte aus dieser Sendung anhört – das Interview, in dem er seine Assistentin dem Moderator Jimmy Savile quasi als Köder anbietet, oder die anzüglichen Bemerkungen über eine Nachrichtensprecherin – kann man kaum glauben, dass sie jemals gesendet wurden. Aber, wie die frühere BBC-One-Controllerin Lorraine Heggessey es ausdrückt: Seine gesamte Karriere verlief nach dem Muster, dass eine Übergriffigkeit eine Beförderung folgte, was die Idee verstärkte, dass schlechtes Verhalten sich auszahlt.Seine Anhänger sehen eine politische „Agenda“ hinter den VorwürfenAls seine BBC-Karriere schließlich wegen eines obszönen Scherzanrufs, den Brand und Jonathan Ross bei dem Schauspieler Andrew Sachs auf Sendung machten, implodierte, fing Hollywood ihn auf. Als auch hier sein Stern erlosch, erfand er sich in Großbritannien neu als antikapitalistischer, gegen den Mainstream gerichteter linker Denker, der auf der aufkommenden Corbynism-Welle surfte und dieses Mal vergötterte ihn ein liberales politisches Establishment, das den jungen Leuten zeigen wollte, dass es sie verstanden hatte. Der damalige Labour-Vorsitzende Ed Miliband ließ sich bekanntlich zu einem Interview mit Brand hinreißen, das mehr als nur einen Hauch von politischer Cool-Girl-Atmosphäre verströmte, aber auch die Redakteure von Newsnight, Question Time und dem New Statesman waren von seinem markigen Glamour angetan – und ja, eine Zeit lang schrieb er auch eine Kolumne für den Guardian. Als all das versiegte, entwickelte sich Brand zu einem YouTube-Wellness-Guru, der mit Verschwörungstheorien über Covid-19 oder den Krieg in der Ukraine hausieren ging und sich eine verschrobene rechte Anhängerschaft aufbaute, um seine linke zu ersetzen.Als er andeutete, dass hinter der Behauptung, er sei ein Vergewaltiger, eine Art politischer „Agenda“ stecken könnte, scharte sich natürlich das aufstrebende populistische Establishment um ihn. „Sie sind jederzeit in meiner GB News Show willkommen“, twitterte die Anti-Impf-Moderatorin des Senders, Bev Turner, während die Lockdown-Kritikerin des Daily Telegraph, Allison Pearson, sagte, ihr erster Gedanke beim Lesen solcher Geschichten sei, sich zu fragen, „warum sie diese Person zum Schweigen bringen wollen“. Sogar Elon Musk, der CEO von X (ehemals Twitter), mischte sich mit der Bemerkung ein, dass die Mainstream-Medien „keine Konkurrenz mögen“.Was Chirurginnen im Operationssaal erlebenEinige werden sich fragen, warum die Anschuldigungen gegen Brand erst jetzt auftauchen, als wäre das Timing wichtiger als der Inhalt dessen, was diese Frauen zu sagen haben. Man muss sich nur ansehen, wie lange es gedauert hat, bis Chirurginnen vergangene Woche öffentlich machten, wie sie in Operationssälen betatscht werden, nur um dann von einem pensionierten Anästhesisten in einem Brief an die Times belehrt zu werden, dass sie „tougher werden“ müssten. Stellen Sie sich vor, wie die Polizei vor einem Jahrzehnt noch auf Frauen reagierte, die den Übergriff eines notorischen Frauenjägers angaben, nachdem sie freiwillig sein Haus betreten hatten; oder denken Sie auch an die Flut von Hass und Drohungen, die Frauen entgegenschlug, die online bekannte Fußballspieler der Vergewaltigung beschuldigten.Oder man denke nur an die monatelangen, ja sogar jahrelangen, ressourcenintensiven Recherchen, die Zeitungen benötigen, um mutmaßliche Sexualstraftäter zu entlarven, vom DJ Tim Westwood bis zum Bankier Crispin Odey (die beide die Vorwürfe bestritten haben), und an die teuren Anwälte, die oft gegen sie eingesetzt werden. (Comedians, die versuchten, die Vorwürfe gegen Brand auf der Bühne anzusprechen, sollen abgemahnt worden sein, sagt der Stand-up-Comedian Daniel Sloss in der Channel-4-Doku, während Alice erklärt, sie habe eine „aggressive“ Antwort von Brands Anwälten erhalten, nachdem sie sich vor drei Jahren mit ihren Bedenken an seinen Literaturagenten gewandt hatte). Es ist bekannt, dass es viel zu viele Männer da draußen gibt, deren Verhalten berüchtigt ist, aber nicht zur Zufriedenheit eines Verleumdungsanwalts nachgewiesen werden kann. Ein Establishment, das Russell Brand zu Fall bringen will? Das ist ja wohl ein Witz. Sparen Sie sich Ihren gerechten Zorn, wenn Sie ihn haben, für das alte und neue Establishment, das ihn so lange hochgehalten hat.
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