Qualm, Qual

Held Gegen Hitler und die Depression: Winston Churchill wird wieder mal Filmstar. Über einen einzigartigen, ganz gewöhnlichen Mann
Ausgabe 02/2018

Wenige britische historische Persönlichkeiten haben einen so hohen Erkennungsgrad wie Winston Churchill. In einer BBC-Umfrage 2002 zum größten Briten aller Zeiten gewählt, bleibt er für viele ein Held. Vor dem EU-Referendum 2016 beanspruchten beiden Seiten sein Erbe. Als vor einiger Zeit im Büro des US-Präsidenten die Büste von Churchill fehlte, führte das zu einer Kontroverse. Boris Johnson, der unter anderem auch Churchill-Biograf ist, behauptete, Barack Obama habe die Büste wegen „seiner Abstammung geschuldeten Ablehnung des britischen Empires“ aus dem Oval Office entfernt.

Wenn etwas an Johnsons Worten dran ist, dann, dass Churchill stark mit dem Empire assoziiert wird – positiv wie negativ. In Teilen der Welt wird er als Schurke erinnert, vor allem in Indien, wo ihn viele für die Hungersnot in Bengalen 1943 verantwortlich machen. Jedes Porträt Churchills wird den einen nicht respektvoll, anderen nicht kritisch genug sein.

Zuletzt kam es vermehrt zur Darstellung. Etwa John Lithgows großartige Performance in der Netflix-Serie The Crown – eine Rolle, die durchaus darauf angelegt ist, die Kritik an Churchills politischer Führung in den 1950ern zu zeigen. 2017 folgten zwei weitere Churchill-Filme. Und nun ist Gary Oldman der Star in Die dunkelste Stunde von Drehbuchautor Anthony McCarten und Regisseur Joe Wright. Eine extrem aufwendige Maske unterstützt Oldmans bemerkenswerte Verwandlung. Im D-Day-Drama Churchill, für das ich das Drehbuch geschrieben habe, spielt Brian Cox den Premier. Entstehen sollte das sehr persönliche Porträt eines komplizierten und faszinierenden Mannes.

Er war selber Drehbuchautor

Man könnte meinen, das gleichzeitige Erscheinen der Filmbiografien spiegelt den historischen Moment des Brexits. Dabei wurden sie lange vor dem EU-Referendum in Auftrag gegeben. Churchill übt also eine konstante Faszination aus. Das erste filmische Porträt des Kanzlers, das in der Internet Movie Database verzeichnet ist, stammt aus dem Jahr 1914. Seither wurde er Dutzende Male für Film und Fernsehen fiktionalisiert: gespielt von Richard Burton, Brendan Gleeson, Timothy Spall, Albert Finney, Michael Gambon, Robert Hardy (neun Mal), ja sogar Christian Slater in dem fröhlich historisch falschen Film Churchill: The Hollywood Years (2004).

In einer Episode der TV-Serie Die Abenteuer des jungen Indiana Jones aus dem Jahr 1992 wurde Churchill von Julian Fellowes gespielt, der später Downton Abbey schuf: Fellowes’ Churchill steht dem Wahlrecht für Frauen ablehnend gegenüber, bis ihn bei einem Abendessen eine von Elizabeth Hurley gespielte junge Suffragette mit Trifle bewirft. Der ebenfalls im letzten Jahr erschienene Bollywood-Film Rangoon zeigt Winston Churchill mit Adolf Hitler auf einer Karte von Europa tanzend zu einem Lied mit dem Titel Mein Mann geht nach England.

Vielleicht hätte all das den echten Churchill amüsiert. Schließlich arbeitete er in den dreißiger Jahren selbst als Drehbuchautor für den britischen Filmproduzenten Alexander Korda. Obwohl Churchills Filmbiografie von King George V nie auf die Leinwand kam, zeigen seine reichen Notizen zu Kordas unproduzierter Version von Lawrence von Arabien, dass er sich auskannte mit Mythifizierung als Teil der Charakterisierung und dass er ein großer Fan von Knalleffekten war.

Die Karikatur Churchills fasst zusammen, was viele gerne als den britischen Nationalcharakter sehen würden: unerschütterlich, trotzig, mutig, geistreich witzig – und wenn auch einem oder zwei Drinks mehr als nötig zugeneigt, dadurch nur noch umso liebenswerter. Vieles davon stimmt, aber das komplette Bild ist noch viel interessanter.

Die Jugend des berühmten Mannes steht den haarsträubenden Erlebnissen eines Abenteuerhelden in nichts nach. Seine Flucht aus der Gefangenschaft im südafrikanischen Burenkrieg wäre eine Verfilmung à la Indian Jones wert. Basierend auf Churchills Memoiren machte Regisseur Richard Attenborough 1972 den Film Der junge Löwe. Doch das Drehbuch von Carl Foreman spielte nicht nur Churchills Ehrgeiz herunter, der ihn gnadenlos antrieb, sondern auch seine Verletzlichkeit, die diesen Ehrgeiz speiste.

Das populäre Bild von Churchill geht auf 1940 zurück, das Jahr, in dem er Premierminister wurde, sich weigerte, Hitler zu besänftigen und einige seiner besten und berühmtesten Reden hielt, während deutsche Flieger London zerbombten. Vor 1940 aber galt Churchill jahrelang als etwas merkwürdig: als Randfigur, ja sogar als Versager. Und im Jahr 1944 – zu der Zeit, in der unser Film spielt – war sein Stern schon wieder am Sinken.

Als Drehbuchautor faszinierte mich die Frage des Tributs, den der Krieg allen abverlangt, die ihn kämpfen, auch wenn sie nicht an der Front sind. In seinem Tagebuch verzeichnete Feldmarschall Alan Brooke, dass Churchill Ende März 1944 „schnell an Halt verlor. Er wirkte ziemlich bedrohlich.“ Am 7. Mai räumte Churchill ihm gegenüber ein, dass „er nicht mehr der Mann war, der er einmal gewesen war ... Nie zuvor hatte ich ihn zugeben hören, dass er begann, zu versagen.“ Der polnische Botschafter notierte am 31. Mai: „Das war das erste Treffen, bei dem ich mich zu fragen begann, ob Churchill tatsächlich übermüdet war; ob er alles verstand, was geschah.“

Die Verhaltensweisen, die Churchill und andere in den frühen Monaten 1944 erwähnen (unberechenbares Temperament, starkes Trinken, Unfähigkeit, aus dem Bett zu kommen), könnten Anzeichen dafür sein, dass die Depressionen zurück waren, die ihn im Leben immer wieder plagten. Präzise Diagnosen für historische Persönlichkeiten sind schwierig, aber die Art und Weise, wie Churchill über seinen Zustand schrieb (zu einer Zeit, als ein Großteil der Sprache, die wir heute dafür haben, noch nicht existierte), ist tiefgründig und berührend – und inspirierte sein Porträt in unserem Film.

Nachdem er sich im Jahr 1911 von einer depressiven Phase erholt hatte, schrieb er an seine Frau Clementine, eine alte Kindermädchen-Metapher für Depressionen nutzend: „Mein schwarzer Hund ... scheint sich weit von mir zurückgezogen zu haben. Es ist eine solche Erleichterung. Alle Farben kommen zurück ins Bild.“ Mehr als einmal erklärte Churchill seinem Arzt, dass er ungern zu nah an Bahngleisen, an Schiffsrelings oder Balkonen stand, um nicht versucht zu sein, sich herunterzustürzen.

Während Churchill in der ersten Hälfte des Jahres 1944 ein Tief durchlebte, bahnte sich eine der wichtigsten Operationen des Krieges an: Operation Overlord oder D-Day, die Landung der britischen Truppen an der französischen Küste. Churchill hatte von Anfang an Vorbehalte gegen den ressourcenintensiven Einmarsch in die Normandie, der die Gefahr schrecklich vieler Todesopfer barg. Viele Historiker führen seine Skepsis darauf zurück, dass er sich im Ersten Weltkrieg für den desaströsen Gallipoli-Feldzug starkgemacht hatte, bei dem eine Truppenlandung auf der türkischen Halbinsel Tausende Tote mit sich brachte. Nach Gallipoli erlebte Churchill eine seiner schwersten depressiven Phasen: „Ich dachte, er würde aus Gram sterben“, erzählte seine Frau. Er verließ die Politik, meldete sich zum Militäreinsatz an der Westfront.

Bei der letzten Besprechung vor dem D-Day am 15. Mai 1944 sagte Churchill zum britischen König und den Militärchefs: „Ich bin jetzt zunehmend entschlossen zu diesem Vorhaben.“ Der Oberste Kommandeur der Alliierten, Eisenhower, war schockiert: „Mir wurde plötzlich klar, dass Churchill die ganze Zeit nicht dahintergestanden und kein Vertrauen in den Erfolg hatte.“

Ursprünglich war das Konzept für unseren Film, die ganze Handlung in die letzten 24 Stunden vor dem D-Day am 6. Juni 1944 zu packen. Historisch hatte Churchill aber – wenn auch widerstrebend – drei Wochen vor der Invasion zugestimmt. Auch wenn Zeitraffung ein viel genutztes legitimes Mittel im Film ist, um Spannung oder Konflikt zu erzeugen, schlug ich den Kompromiss vor, die Handlung auf die Zeit vom 15. Mai bis 6. Juni auszudehnen und Daten vage zu halten.

Held mit Depression

Es gibt Anzeichen dafür, dass Churchill über den 15. Mai hinaus Bedenken plagten und dass er, vielleicht deswegen, versuchte mitzumischen. Er entwickelte einen verrückten Plan, nach dem er und König George VI mit der Invasionsflotte in die Normandie fahren sollten, dem der König am 2. Juli ein Ende machte. Churchill fuhr mit dem Privatzug nach Portsmouth zu den D-Day-Vorbereitungen. Als die Schiffe am 5. Juni ablegten, teilte er seine Ängste mit Clementine: „Wenn du morgen aufwachst, können 20.000 junge Männer tot sein.“

Churchill muss in dieser Zeit enorm frustrierend im Umgang gewesen sein (Brooke schreibt, er sei „unmöglich“ gewesen und die Arbeit mit ihm „schrecklich“). Doch ich entwickelte eine gewisse Sympathie für einen Mann, der sein Leben lang gekämpft hatte, aber in dem Moment, als Großbritannien zu siegen begann, persönlich das Gefühl hatte, dass er zunehmend am Verlieren ist. Im Kern erzählt der Film eine Geschichte über Pflicht und Größe, über Hoffnung in den dunkelsten Momenten.

Als herausragender Autor (und Gewinner des Nobelpreises für Literatur 1953) trug Churchill dazu bei, seinen eigenen Mythos zu schaffen. Auch wenn er vielleicht nie den Satz „Die Geschichte ist mit mir, denn ich habe vor, sie zu schreiben“ geäußert hat, sagte er mit brillanten Worten andere Dinge und verfasste seine Memoiren. Seine Persönlichkeit ist viel umfassender als eine Karikatur. Ich wollte den Teil seines Leben ausloten, der mit seinen Depressionen und seiner Verletzlichkeit zu tun hat, weil sich viele Menschen mit diesen Aspekten identifizieren können. Dieser Teil der Geschichte hat mich bewegt.

Es wird immer Leute geben, die etwas gegen die Darstellung von Winstons Churchills Depressionen haben, weil sie meinen, das untergrabe seinen Heldenstatus. Genau das Gegenteil ist der Fall. Das Größte, was wir für unsere historischen Ikonen tun können, ist uns in Erinnerung zu rufen, dass sie menschlich waren.

Alex von Tunzelmann hat das Drehbuch zu Churchill geschrieben, der Film ist auf DVD und Blu-ray (Universum) erhältlich. Die dunkelste Stunde mit dem gerade bei den Golden Globes ausgezeichneten Gary Oldman kommt am 18. Januar in die deutschen Kinos

Übersetzung: Carola Torti

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Alex von Tunzelmann | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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